: Lounge Wizards
Her mit den kleinen JapanerInnen! „J-Pop“ und „The Sound of Shibuya“ heißen die aktuellen Herbstfarben der Popkultur – spielzeugbunt, ninjaguerillaspaßig, garantiert knitterfrei und ohne störende Beimengung von Sinn ■ Von Daniel Bax
Jede Generation schleppt ihre Traumata mit sich herum. Das Trauma meiner Generation hat Kulleraugen: Biene Maja, Pinocchio, Heidi, Captain Future und Kimba, der weiße Löwe – das waren die Filmfiguren, die eine ganze Kindergeneration geprägt haben. Und sie entsprangen ausnahmslos japanischen Zeichentrickstudios.
Vielleicht erklärt diese frühkindliche Prägung meiner, also der in Ermangelung besserer Bezeichnung so genannten Technogeneration ihre fast schon irrationale Zuneigung zu Artefakten der japanischen Populärkultur. Denn zweifellos ist Japan momentan popkulturell schwer angesagt: In Szeneclubs werden Sushi-Happen und japanisches Bier gereicht, italienische Jeansfirmen werben mit japanischen Werbespots, teure Techno-T-Shirts werden mit kryptischen Kanji-Zeichen vollgedruckt, und seit „Akira“ hat fast jeder deutsche Comic-Verlag eigene Manga-Übersetzungen im Programm – auch wenn die Lizenzausgaben oft spiegelverkehrt gedruckt werden müssen, damit sie nach westlicher Sitte von vorne nach hinten lesbar sind.
Auch im Plattenladen lauert die Invasion der fremden Zeichen: Manch mittelmäßige Berliner Technoformation tarnt sich als „Tokyo Ghetto Pussy“, und bisher unauffällige Trendsurfer wie Everything But The Girl garnieren, ganz beiläufig, ihr neuestes Albumcover mit Nippon-Nonsens. Doch das ist noch nicht der Höhepunkt: Wo Japan draufsteht, soll in Zukunft auch wirklich Japan drinsein.
Zum Beispiel „Maicca“: Das Stück war der japanische HipHop- Hit der vergangenen Saison und brachte den Newcomern East End + Yuri den Durchbruch in Japan. Europa soll jetzt folgen. Mit „Maicca“ kommt erstmals eine Platte im japanischen Original- Outfit und im dort handelsüblichen kuvertförmigen Längsformat in deutsche Plattengeschäfte – die Plattenfirma setzt auf den Exotikbonus. Das Video, in dem East End + Yuri vor bunter Comic-Kulisse niedliche Poserfaxen machen, rotiert bereits im Programm von MTV, und eines läßt sich jetzt schon sagen: Die drei sind süß.
Doch ob das allein ausreicht, um in Europa die Charts zu knacken, ist fraglich. Zum einen ist Gute-Laune-HipHop à la „Maicca“ vom US-amerikanischen Ghetto-Ursprung ungefähr so weit entfernt wie Stefan Raabs „Hier kommt die Maus“, und zudem geht der potentiellen Käuferschicht, den durchschnittlichen Fanta-4- Fans, auch noch der ganze Sprachwitz der durchaus lustigen Lyrics verloren. Aber der Niedlichkeitsbonus des putzigen Trios ist ja auch was. Und warum soll den juvenilen Japanern nicht gelingen, was selbst zwei senile Lüstlinge aus Spanien auf ihre alten Tage noch schafften: ganz Europa mit einem gnadenlos simplen, in einer unverständlichen Sprache gesungenen Ohrwurm wochenlang auf den Keks zu gehen. Vergeßt Macarena, do the Maicca!
Das Gefühl, sich in einem musikalischen Paralleluniversum zu befinden, befällt den unvorbereiteten Japantouristen spätestens beim Gang in einen der gigantischen, mehrstöckigen Record-Stores. Alles, was es im Westen gibt, gibt es dort auch, sogar zweimal: als Original und als japanisches Duplikat: Dance-Funk-Sternchen und Techno-DJs, schräge Rock-, Reggae- und New-Wave-Bands sowie hervorragende Jazz- und Acid-Jazz- Combos füllen ganze Etagen, dazu natürlich jede Menge J-Pop.
J-Pop ist der Branchenterminus für allgegenwärtige, leicht konsumierbare Mitsing-Massenwaren, und von jedem J-Pop-Hit werden die Sing-along-Karaoke-Instrumentals gleich mitproduziert. Zählt man den Karaokemarkt hinzu, dann erzielt die nationale Popproduktion drei Viertel der Umsätze auf dem zweitgrößten Musikmarkt der Welt – von angloamerikanischer Popinvasion keine Spur.
Um sich ein Bild davon zu machen, wie stark die japanische Jugend gleichwohl von westlichen Musikmoden beeinflußt wurde, brauchte man sich als Tokiobesucher bis vor kurzem nur einmal zum Yoyogi-Park im Tokioter Stadtteil Harajuku zu begeben. Jedes Wochenende reihten sich dort japanische Rockabillys, Punkbands und HipHopper auf einem eigens für sie abgesperrten Straßenstreifen auf, um sich dann gegenseitig mit Hilfe mitgebrachter Anlagen zu übertönen: ein Panoptikum westlicher Jugendkulturmodelle. Auch MC Gakku und DJ Yoggi alias East End haben hier als Homeboy-Kopie ihre Karriere begonnen.
HipHop kam über Japan genauso wie über Deutschland. Via Film, Funk und Fernsehen vermittelt, paßten ihn die lokalen Tribes vor Ort ihren real existierenden Lebensbedingungen an. Irgendwann begannen die ersten dann zwangsläufig, statt mühsam schwarzen Slang nachzuahmen, japanisch zu rappen und Themen aus ihrem Alltag aufzugreifen.
„Wir haben in Japan keine Rassenproblematik wie in Amerika. So greifen wir in unseren Texten meistens lustige Begebenheiten oder Beziehungskomik auf“, erklärt MC Gakku. Und sein Partner DJ Yoggi berichtet nicht ohne Stolz: „Die HipHop-Szene in Japan ist sehr klein und entstand schon in den Achtzigern. Doch erst seit unserem Hit gibt es einen richtigen Boom, und man findet Rap und HipHop auch in Zeitschriften, wo früher nie was drin stand.“
Der Erfolg von East End + Yuri beruht natürlich auch, wie alles in Japan, auf dem entsprechenden Marketing: „Um im japanischen Popmarkt erfolgreich zu sein, ist es ganz hilfreich, ein niedliches Frontgirl zu haben“, erläutert Katsumi Nishimura, Chefredaktur der populären Radiostation J-Wave, sehr geschäftlich. Das ist wohl kaum übertrieben: Wäre die 23jährige Solistin Yuri Ishii nicht vor zwei Jahren zum HipHop-Duo gestoßen, würden die beiden Rapper MC Gakku und DJ Yoggi wohl heute noch auf den Straßen von Harajuku ihre Headspins drehen. Dank optisch-akustischer Verstärkung verkaufte sich der Kinderzimmer-Rap „Maicca“ im letzten Jahr mehrere millionenmal und ließ East End + Yuri zum best-selling HipHop-Act Japans aufsteigen.
Doch exportiert wird zur Zeit nicht nur japanischer HipHop. Auf Easy-Listening-Parties und im Acid-Jazz gehören Platten japanischer Gruppen wie Pizzicato Five, Mondo Grosso, Cosa Nostra, Silent Poets und Tokyo's Coolest Combo längst zum Standardprogramm. Das berüchtigte Berliner DJ-Duo Le Hammond Inferno hat gerade unter dem mächtig kalauernden Titel „Sushi 3003“ eine ganze Kollektion japanischen Clubpops herausgebracht. Der schräge Sampler gibt einen Querschnitt durch ein Genre, das hierzulande unter „Easy Listening“ firmiert, in Japan aber als „Sound of Shibuya“ berühmt geworden ist – benannt nach seinem Geburtsort Shibuya, einem hektischen Tokioter Büro- und Vergnügungsviertel mit vielen Bars, Diskotheken, Theatern und mehr.
„In Shibuya herrscht eine kreative Atmosphäre wie im San Francisco des Jahres 1967“, glaubt Tomoyuki Tanaka vom DJ-Projekt Fantastic Plastic Machine. Sein Kollege Yasuharu Konishi, bekannt als Kopf von Pizzicato Five, hält Tokio deswegen für nicht weniger als „die interessanteste Stadt der Welt“. In Shibuyas Boutiquen, Plattenläden und Secondhandshops laufen Moden und Musiken aus aller Welt zusammen: ein schier unerschöpflicher, kosmopolitischer Konsumkosmos. „Es ist einfacher, eine amerikanische Vinyl-Rarität in Shibuya zu bekommen als in den Staaten selbst“, weiß Tanaka. Findige japanische Sammler haben dem Westen mit harten Yen große Teile seines Popkulturerbes abgekauft und verwalten es nun in den Secondhand- Plattenläden von Swingin' Shibuya. Aus diesem reichen Fundus schöpfen die Tokioter Neo-Beatniks ihr Sample-Material: vorzugsweise Blue-Note- Jazz, Bossa Nova und Burt Bacharach.
Auf „Sushi 3003“ ist das Ergebnis der manischen Sammelleidenschaft zu hören: eine flirrende Melange aus unterschiedlichsten Musikstilen, die aber bei allem Eklektizismus einer durchgehenden Logik unterworfen zu sein scheint. Der unterschwellige Gleichklang ist zum Teil der Tatsache geschuldet, daß hinter den unterschiedlichen Bandprojekten öfters mal dieselben Namen, lediglich in wechselnden Konstellationen, auftauchen: zum Beispiel Pizzicato-Five-Mastermind Yasuharu Konishi oder Deee Lites DJ-Guru Towa Tei, der selbst schon mit „Future Listing“ unter eigenem Namen selbst ein ziemlich bunt klingendes Gemischtwarenalbum veröffentlicht hat.
Man kennt sich eben in Shibuya, und man teilt den gleichen Geschmack. Indem sie sich besonders gerne an Cocktailbar-Fossilen wie Lalo Schifrin, Antonio Carlos Jobim oder Hugo Montenegro vergreifen, um sie als moderne Dance- Travestie wiederauferstehen zu lassen, treffen die hippen Lounge- Popper aus Shibuya einen ganz eigenen, Tokio-typischen Ton: progressive Nostalgik, falls es so etwas gibt.
Japan ist bekanntlich „anders anders“, wie ein ziemlich abgekautes Zitat von Cees Nooteboom besagt. Das gilt erst recht im Musikbusiness: Als ultramodernes Industrieland mit starkem Traditionsbezug liegt Japan zwar jenseits der tonangebenden Popnationen, kann aber auch nicht zur Folklorepop-Peripherie der Weltmusik gezählt werden. Vielleicht liegt es am Problem der mangelnden Klassifizierbarkeit, daß Japanisches erst jetzt den direkten Weg auf europäische Plattenteller findet. Bisher mußten fast alle japanischen Künstler den Weg über New York nehmen, um außerhalb Japans Gehör zu finden – Pizzicato Five nannten ihr erstes im Ausland erschienenes Album nicht ganz ohne Hintergedanken „Made in USA“. Dieser Umweg hatte nebenbei zur Folge, daß so entgegengesetzte Charaktere wie der Elektronikexperimentalist und Filmmusikbastler Ryuichi Sakamoto wie auch sein Schüler Towa Tei hierzulande gerne in einem Zug mit dem amüsant-dilettantischen LoFi-Trash- Rock der US-japanischen Girlie-Gruppen wie Shonen Knife und Cibo Matto rezipiert wurden. Very strange, all das.
Doch auch beim Direktimport aus Japan müssen kleine Verzögerungen in Kauf genommen werden. „Die Songs auf „Sushi 3003“ gehören schon der Vergangenheit an. Was jetzt produziert wird, ist schon wieder viel weiter“, betont DJ Tomoyuki Tanaka. Aber die Rezeption im Ausland läuft ja bekanntlich selten analog zu Entwicklungen im Land selbst, wie etwa der Blick nach Großbritannien lehrt. Dort wird, im Zuge des aktuellen Retro-Revivals, der deutsche „Krautrock“ der Siebziger als das nächste große Ding gefeiert – ohne übergroße Resonanz hierzulande, zum Glück.
Ein weiterer Grund, warum sich japanischer Pop schwerlich der Kategorie „Weltmusik“ zuordnen läßt, liegt in der offensichtlichen Unmöglichkeit, daran auch nur im entferntesten irgend etwas spezifisch Japanisches zu erkennen. Im Gegenteil: Beim Durchhören von „Sushi 3003“ bleibt vielmehr eine deutliche Affinität zur Latino- Leichtigkeit im Ohr hängen. Brazil Grooves ziehen sich durch den gesamten „Sushi“-Sampler – wohl ein Rudiment der schon legendären Begeisterung der Japaner für lateinamerikanische Klänge.
Der allerneueste Brasil-Boom durch Acid-Jazz-Formationen wie United Future Organisation, Mondo Grosso oder Cosa Nostra ist nämlich lediglich die Fortführung einer langen japanischen Tradition, die unter anderem eine Weltklasse-Salsaband wie das Orchestra De La Luz hervorgebracht hat: Japaner als die besseren Latinos. Nur verlegen sich die jungen Avantgardisten aus Shibuya heute nicht mehr auf möglichst originalgetreues Kopieren, sondern auf ironisches Zitieren: Man höre sich das psychedelisch-bizarre „Boy from Ipanema“ von einem Typen namens Jumbo an, um zu wissen, was ich meine.
„Japan nimmt ausländische Musikstile auf und entwickelt sie weiter – wie schon mit Autos und Elektronik“, resümiert Tanaka mit für japanische Verhältnisse untypischer Unbescheidenheit. Und postuliert: „Im Lounge-Pop ist die japanische Szene die fortschrittlichste.“
Und die fröhlichste – das zeigt die geradezu killerhaft konsequente Naivität und Unbekümmertheit der zwanghaft federnden Stücke: eine unerträgliche Leichtigkeit, die nicht von ungefähr gelegentlich schreckliche Erinnerungen an die deutsche Schlagerseligkeit der Sechziger weckt: Schön ist es, auf der Welt zu sein. No time for Tiefsinnigkeit.
Gerne möchte man da der unschuldigen Shibuya-Szene ideologiekritisch anlasten, lediglich dem Eskapismusbedürfnis japanischer Workaholics beizukommen, doch Roland Barthes' „Im Reich der Zeichen“, das wir zu Rate ziehen, klärt uns auf: „Hier stoßen wir auf diese Sinnfreiheit, die wir kaum verstehen können, weil den Sinn angreifen bei uns ihn verdecken oder verkehren heißt, niemals aber ihn beiseite stellen.“
Uns heißt das: Die Popdekonstruktivisten aus Shibuya sind die Ninja-Spaßguerillas im Space Age – und Japan die wirkliche letzte Popalternative auf diesem Planeten.
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