: Landschaftslesen am Sustenpaß
Den Fremdenverkehr in den Alpen „entschleunigen“ wollen Tourismuskritiker und die Naturfreunde: Franken für die Bewohner mit Rücksicht auf die Natur ■ Von Henk Raijer
Bullen regeln den Verkehr am Sustenpaß – wenn auch nur für Augenblicke. Ein kräftiger Klaps aufs Hinterteil, und schon machen die Viecher den Weg wieder frei, aufheulende Motoren überstimmen alsbald das Gebimmel der Glocken um ihren Hals.
Ländliche Schweiz, aber von Stille und Idylle keine Spur: Im 300-Seelen-Kaff Innertkirchen auf die andere Straßenseite zu gelangen ist an manchen Sommertagen schwieriger, als in Deutschland zu Fuß eine Stadtautobahn zu überqueren. Bis zu neuntausend PKWs und Busse sowie Hunderte von Motorrädern rollen an Spitzentagen über die „Kunststraße“ zum Sustenpaß.
„Unerträglich“ findet das Dominik Siegrist, passionierter Wanderer und Autor des Bandes „Pässespaziergänge. Wandern auf alten Wegen zwischen Uri und Piemont“: „Die gesamte Landschaft entlang der Paßstraßen über Grimsel, Furka und Susten stöhnt mittlerweile unter dem Lärm und dem Gestank der bergwärts strebenden Blechkolonnen und den Scharen von Gästen, die ihre Autos nur verlassen, um Restaurants, Souvenirläden und Alpenweiden zu bevölkern“, klagt der gelernte Geograph. Siegrist ist einer von etwa siebzig Teilnehmern der „Tour d'horizon“, die Ende Juli in acht Tagesetappen eine Weitwanderung über die historischen „Säumerwege“ unternehmen – immer entlang der klassischen Dreipässeroute. Jeder Tag ist einem talspezifischen Thema gewidmet: Unterwegs erläutern Bergführer Gletscherschwund und Klimawechsel, am Abend wird über Energiepolitik, Transitverkehr und Abwanderungsprobleme informiert.
Gedacht ist die „Tour d'horizon“ als aktiver Beitrag zum sanften Tourismus in einer Region, die 1995/96 von der Naturfreunde Internationale (NFI) mit dem Prädikat „Landschaft des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Die Philosophie der Aktion „Landschaft des Jahres“ ist es, die Aufmerksamkeit jeweils auf eine bestimmte grenzübergreifende Landschaft zu lenken, die eine exemplarische ökologische Bedeutung hat und zugleich in besonderer Weise gefährdet und damit schützenswert ist. Bisherige „Landschaften des Jahres“ waren 1989 der Bodensee (Österreich, Deutschland, Schweiz), 1990 der Neusiedler See (Österreich, Ungarn), 1991/92 die Eifel-Ardennen (Luxemburg, Belgien, Deutschland) und 1993/94 die Odermündung (Polen, Deutschland).
1995/96 wurden insgesamt 450.000 Quadratkilometer Alpen mit dieser Auszeichnung bedacht, für ihre Aktionen jedoch griff die NFI, ein Zusammenschluß von zwanzig nationalen Verbänden mit europaweit 600.000 Mitgliedern, zwei besonders gefährdete Regionen heraus: das Kärntner Lesachtal (Österreich) und das Gebiet Furka-Grimsel-Susten in der Schweiz.
Angesichts des automobilen Terrors auf den Paßstraßen der Kantone Uri, Wallis und Bern ein notwendiges Signal. Vor fünfzig Jahren, als die alpenquerende Panoramastrecke über den Sustenpaß eröffnet wurde, schwärmte man in der Schweiz vom „unaufhaltsamen Siegeszug des Automobilismus“. Träume waren am 7. Oktober 1946 Wirklichkeit geworden: Steingletscher und Sustenhorn konnten nun, wenn auch nur an wenigen Wochen im Jahr, aus nächster Nähe bewundert werden.
Euphorie und Fortschrittsglauben hatten die Mobilitätsideologen jener Zeit erfaßt. Aber es ist nicht nur der exzessive Autoverkehr, der die Ökobilanz negativ beeinflußt. Die touristische Infrastruktur der Schweiz als Ganze zerstöre durch ihre umweltverachtende Art die eigenen Grundlagen, sagt Peter Glauser, Wirtschaftsgeograph und Geschäftsführer der Naturfreunde Schweiz. „Nach wie vor heißt die Devise der Tourismusindustrie: ,Wir brauchen mehr Matterhörner.‘“ Durch schiere Maßlosigkeit seien viele Dörfer, ja ganze Landstriche verschandelt worden. „Der Schweizer Tourismus bietet heute entweder die lieblose Fast-food-Portion oder das von neuer Technologie strotzende Hochpreis-Angebot.“ Dazwischen, so Glauser, herrsche Ratlosigkeit.
Erklärtes Ziel der Naturfreunde, so sagt ihr Generalsekretär Manfred Pils, sei es daher, mit konkreten Aktionen vor Ort zu zeigen, wie man den Tourismus langsamer, menschlicher und naturverbundener machen kann. „Dabei werden Sie von mir jedoch keine Botschaften hören, die nach Heu riechen oder nach Mist stinken“, beteuert der Wiener. „Die Alpen sind ein Naturraum, aber eben auch Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum. Allerdings hat der ökologisch sensible Gebirgsraum nur dann eine Chance, wenn endlich eine Umorientierung auf nachhaltige Entwicklung einsetzt.“ Mit dieser Zielsetzung, so Pils, führe seine Organisation Aktionen durch, die in den beiden Modellregionen dazu beitragen sollen, die ökonomische Existenz der Bevölkerung zu sichern und dabei die natürlichen Ressourcen zu schonen.
Denn wo das Umfeld stimmt, haben auch Biolandwirtschaft und Familienbetriebe ihre Chance. Auf der Hinterfeldalb nahe Färnigen erhalten die Wanderer nicht nur eine anschauliche Lehrstunde in der Sennerei, sondern werden anschließend mit Vollwertkäse und Ziegenmilch verwöhnt. Die NFI versucht bewußt jene Gastwirte bei der Unterbringung der „langsamen“ Gäste zu berücksichtigen, die ausschließlich Produkte aus der Region anbieten. Kein leichtes Unterfangen in der durchweg kapitalintensiven Tourismusindustrie der Schweiz.
Nicht zuletzt weil deren Umsätze in den letzten zwei bis drei Jahren um vier Prozent zurückgegangen sind, setzt die NFI in Zusammenarbeit mit ausgewählten Gemeindeverwaltungen auf eine neue Qualitätsoffensive für einen umweltverträglichen Kulturtourismus. Den Fremdenverkehr „entschleunigen“ heißt die Devise: Anfahrt mit Bus und Bahn, verweilen statt vorübereilen, wandern statt fahren.
Dominik Siegrist bezeichnet die Wanderungen entlang der historischen Säumerwege, die zur Zeit mit Unterstützung von Teilnehmern internationaler Jugendcamps der NFI restauriert werden, als „Landschaftlesen“. Beim Überqueren der alten Paßrouten mit ihren zum Teil gut erhaltenen Bogenbrücken aus Granit lernen die Tour-d'horizon-Freunde etwa, unter welchen Bedingungen im Mittelalter die „Säumer“ (Händler) hier über die Berge zogen: von Bern nach Mailand mit Käse, von Mailand nach Bern mit Wein und Oliven.
Abends dann, nach schweißtreibender Bildungsreise, werden die Wandersleut' mit einer geballten Ladung lokaler Probleme konfrontiert.
Da ärgern sich die Wassener über die Belastung durch den Transitverkehr, schimpfen die Leute in Guttanen über die neue Gigantomanie des Wasserkraftwerks Grimsel West und lamentieren die in Gadmen über die Abwanderung der Jugend. Erstaunt müssen die politisch korrekten Städter aber auch feststellen, daß die Einheimischen das Anliegen eines „sanften Tourismus“ in ihrer Region kaum ernst nehmen. „Erst mal schauen, was solche Projekte bringen“, sagt Hans-Ulrich Kehrli von der Gemeinde Gadmen. „Sanfter Tourismus ist prima, die neue Bescheidenheit ist gut, aber sie soll schon ein paar Franken einbringen.“
Buchtip: Dominik Siegrist. „Pässespaziergänge. Wandern auf alten Wegen zwischen Uri und Piemont“. Rotpunkt-Verlag. Zürich, 1996, 42 Franken
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