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„Bilder aus dem Bauch Deutschlands“

■ Hörspiele zur Lage der Nation bei S2-Kultur und ORB

Na, wie geht's uns denn heute? Knapp sieben Jahre nach dem folgenreichen 9. November? Bauchgrimmen haben wir, und drum legen S2-Kultur und ORB ganz unabhängig voneinander das Stethoskop an den Volksmagen. Doch aus der Flut von Zeitstücken gerade die zu fischen, die sich dem national Unverdauten mit Erfindungsgeist und Sprachwitz nähern, ist gar nicht so einfach.

Das Ergebnis sind Hörstücke, die erfreulich frei von Larmoyanz, Verdrängung und Zweckoptimismus sind. „Bilder aus dem Bauch Deutschlands“ nennt der Südwestfunk seine Reihe, „Halb und Halb“ heißt das ORB-Kunststück, das sich schon in der ersten Viertelstunde in die Oberliga spielt: „Mememe-mayday!!!“, brummt da einer, und wir sind Zeugen seines Versuchs, Putzmittel an den Mann zu bringen. Doch leider ist er von Anfang an der Loser und redet sich um Job und Kopf und Kragen. Ein schneller Blick ins Innenleben dieses Mannes, dessen Beobachtungen (von Martin Seifert in bewundernswerter Hochform dargestellt) zwischen furchtbar komisch und ergreifend pendeln.

Die Frage „Wer ist erfolgreich – wer verraten und verkauft?“ wird auch von den anderen Hörstücken souverän durchgespielt. So verwandeln sie Reflexion in lebendige Parabeln, beredte O-Ton-Collagen und fesselnde Monologe. Eines ist allen Stücken gemeinsam: Man kann sie bestens auch im Auto hören, was sonst ja zu den sieben Todsünden der Hörkunstbranche zählt. Denn alle Stücke erzählen ihre Sache dynamisch durch, fordern den SchauspielerInnen stimmliche Dramatik ab, bauen stringente Hörräume auf und geben unsere gesammelten Sprachmasken wieder. Z.B. „Die Beute“: Herr Molsen ist auch bei 120 Stundenkilometern sofort als Wessi zu erkennen: zurückhaltend, kühl, im Managertraining sprachgeschult. Die näselnde Klarheit seiner Sätze läßt schon formal keinen Zweifel zu: Er hat die Kohle in der Tasche. Sein Begleiter ist ein Ossi, nicht auf den Kopf gefallen, der stark sächselt. Sein Trumpf: die Bruchbude auf zukunftsträchtigem Boden. Man redet steif und kommt sich handelnd näher: „1 Million? 1,2?“ Doch was bis jetzt als Dok-Spiel klingt, kriegt eine andere Farbe, als plötzlich das „Gespenst des Kommunismus“ auftaucht. Geschrumpft ist es – ein klitzekleines Frauchen, das dem Ossi Angst einjagt und den Wessi am Ende verzaubert. Realgroteske? Märchen? Wer weiß.

„Helden wie wir“ von Thomas Brussig war schon als Roman ein Renner. Klaus Uhlztscht heißt der Held, der entmündigt von der hysterisch-gluckenden Mama an einem noch viel schlimmeren Übel trägt: seinem winzig kleinen Pimmel. So rotiert dieser „Schelmenroman“ (Biermann) fast 80 Minuten lang ums beste Stück des Helden – wie der zu kurz Geratene sein jugendliches Selbst zerstörte und aus ihm leichte Beute für die Stasi machte. Und unter deren Händen – aufgrund schräger Verwicklungen – zur Übergröße schwoll. So daß der Held mit monströsem Schwanz am 9. 11. 89 die Grenzsoldaten arg verschreckte, um so die Mauer „einzustoßen“. Gaby Hartel

ORB: „Halb und Halb“, So., 20.05 Uhr; S2-Kultur: „Beute“, So., 16 Uhr; „Helden wie wir“, 26. 9., 21 Uhr; „Frauentags-Ende“, 29. 9., 16 Uhr; „Wartesaal“, 3. 10., 16 Uhr

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