Das Feigenblatt des Entdeckers

■ Mit Sternenstaub gepudert: Das Hamburger Filmfest beginnt diese Woche

Carl hat die Neuzulassungsplaketten vergessen. Die Freeway-Streife läßt sich nicht schmieren, und dummerweise beginnt die Gekidnappte auf dem Rücksitz, nun allzu vernehmlich zu wimmern. Partner Gaear, kein Mann großer Worte, geht gleich zur endgültigen Konfliktlösung über und ballert den Uniformierten um. Und während Carl sich mit der Leiche abschleppt, befreit Gaear auch den letzten Zeugen, der eingeklemmt in seinem Unfallauto zittert, mit einem Schuß von Schmerzen und Wissenslast. Eine wunderbar lakonische Szene, in einem Film, der sich durch keinen Schußwechsel aus der Ruhe bringen läßt. Fargo von Joel Coen gehört sicherlich zu den interessantesten Beiträgen auf dem diesjährigen Filmfest. Coen hat –wie die meisten Teilnehmer– seine Low-Budget-Zeit längst hinter sich gelassen und bereits den einen oder anderen Blockbuster zu verzeichnen. Eine sichere Sache also, und schaut man auf das Programmheft, wimmelt es nur so von solchen, ob prominente Kunst- oder ertragreiche Kommerzfilmer: Lars von Triers bejubelter Breaking the Waves, Greenaways Bettlektüre, Iosselianis Brigands, Turteltaubs Phenomenon, dessen Tonspur unlängst Report als Scientology-propagandistisches Gewisper dekodierte, Fish and Chips von Stephen Frears, Robert Altmanns Kansas City. Berühmte Namen auf langer Liste. 96 Produktionen aus 27 Ländern, sortiert nach Herkunft oder fischigen Kategorien wie „Young Cinema“ oder „Hollywood and Beyond“. Auch wenn etliche Produktionen später in den Kinos laufen, sollen die noch verleihlosen Filme an die Wurzeln des Festes erinnern, an die Kinotage und das Low-Budget-Festival.

„Was heißt schon Independent“, sagt Josef Wutz, der Leiter des Filmfestes und seufzt: „Ich bedaure sehr, daß ich gar nicht mehr Entdecker sein kann“. Hat er eine Kostbarkeit in San Sebastian, Cannes oder Venedig gesehen, sind andere meist schneller. „Immer wieder schnappte uns Miramax wunderbare Filme vor der Nase weg. Als Festivalsleiter würde ich natürlich gerne mehr unbeachtete Perlen hervorzaubern.“

Wer sich fern der Previews und Vip-Präsentationen in unprominentere Filmwelten einsehen will, der sollte auf dem dicht gedrängten Programm nach Filmen aus Japan, wie A Weatherwoman, Like Grains of Sand oder Kids Return und australischen Produktionen wie Fistful of Flies, Love and Other Catastrophes und Lilian's Story Ausschau halten. Nach einem braucht man jedenfalls nicht zu suchen: Filme aus Hamburg. Außer Hark Bohms bis zum Festbeginn unter Verschluß gehaltenen Für immer und immer, findet sich im Programmheft nur eine Kurzfilm-Sammlung der Hamburger Film-Werkstatt und ein „TV made in Hamburg“-Block, in dem neben Lars Beckers Landgang für Ringo Fernsehgesichter in ARD-Produktionen einmal zu Leinwandformat hochwachsen dürfen. Eine Feigenblatt-Veranstaltung, die Hamburg sicher nicht zu „der Kino-Town Nummer eins“, wie das Programmheft vollmundig prophezeit, adelt. „Mich persönlich hat nicht ein Hamburger Filmemacher angesprochen“, betont Wutz, „Wo sind die Hamburger Filme, wo?“ Wohl nicht auf den A-Festivals dieser Erde, aber vielleicht auf dem Filmfest im nächsten Jahr . B.Glombitza