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Eine bahnbrechende Bahn mit brechenden Fahrgästen Von Ralf Sotscheck

Manchmal hat der britische Privatisierungswahn auch seine Vorteile. So ist der berüchtigte „Kippzug“ jetzt wieder aufgetaucht – eine Glanzleistung englischer Ingenieure, über die das Eisenbahnunternehmen British Rail lieber den gnädigen Mantel des Vergessens gebreitet hätte. Der Zug rostete seit 15 Jahren in seinem Versteck in York vor sich hin, bis er im Lauf der Bahnprivatisierung dem National Railway Museum in die Hände fiel. Dort ist man nun dabei, das Ungetüm zu säubern. Das ist in Anbetracht der damaligen Ereignisse auch nötig.

„Advanced Passenger Train“ (APT) hatte man den Zug in Form einer Gewehrkugel getauft. Getreu der britischen Vorliebe für doppeldeutige Abkürzungen heißt „apt“ auf deutsch: „geeignet, passend, treffend“. Fragt sich nur wofür? Die Jungfernfahrt war ein großer Lacherfolg – jedenfalls für diejenigen, die nicht mitfahren mußten. Der „Kippzug“ hatte eine Weltneuheit zu bieten: Er ging in den Kurven in eine Schieflage, so daß er seine Reisegeschwindigkeit von 250 Kilometern pro Stunde beibehalten konnte. Leider hatte man dabei nicht an die Passagiere gedacht. Die Prominenten und die Journalisten mußten sich während der gesamten Jungfernfahrt übergeben. Als der Zug endlich anhielt, machte sich die grüngesichtige Baggage schnell aus dem Staub, und der vollgekotzte Apt verschwand über Nacht in York.

„Dumm gelaufen“, meint Colin Divall, Professor für Eisenbahnstudien an der Universität von York. „Man hätte den Zug weiterentwickeln müssen. Aber sie wollten ihn ja unbedingt der Öffentlichkeit vorführen, weil die mit ihren Steuergeldern dafür bezahlt hatte.“ Die Ingenieure hatten sämtliche technischen Neuheiten in den Prototyp eingebaut, die ihnen in die Finger gekommen waren. Leider hatten sie aber auch nicht den geringsten Schimmer von Eisenbahnen.

So war ihnen offenbar entgangen, daß Züge normalerweise auf parallelen Gleisen in entgegengesetzten Richtungen verkehren. Hätten sich zwei Apts in geneigter Stellung unterwegs getroffen, wären sie unweigerlich zusammengekracht. Die Wahrscheinlichkeit wäre ziemlich groß gewesen, blockierte die Kippvorrichtung doch alle Nase lang, so daß der Zug auch auf kerzengerader Strecke in Schieflage mit 250 Sachen entlangraste.

Aber es gingen noch ganz andere Sachen schief. Die außen unter den Türen eingebauten Treppchen, die an den Bahnhöfen automatisch herausspringen sollten, waren immer wieder abhanden gekommen: Der Mechanismus ließ sich durch die kleinste Unebenheit der Gleise foppen und gab die Stufen bei voller Fahrt frei. Wenn der Zug dann in den Bahnhof einrollte, zerschellten die Treppchen am Bahnsteig. 15 Stück verlor man auf diese Weise.

„Im Grunde genommen war der Zug ein riesiger Erfolg“, behauptet Eisenbahnologe Divall ungerührt. „Der Zug tat genau das, was von ihm verlangt wurde.“ Er sei ein „faszinierendes Beispiel bahnbrechender Technologie“. Das wird die in der Bahn brechenden Fahrgäste aber freuen. Das Kippmonster soll im Eisenbahnmuseum jedoch nur ein bißchen hin- und herfahren. Sicherheitshalber hat man mit British Airways einen günstigen Vertrag über die Lieferung von Kotztüten abgeschlossen.

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