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Mission Kongo: Gesang auf die Niederlage

Ché Guevaras Guerillakampf im Kongo 1965 war zwanzig Jahre lang das bestgehütete Geheimnis der kubanischen Revolution. Kein Wunder: Es war ein Desaster. Jetzt ist Chés Bericht darüber erschienen. Im Auftrag von Fidel Castro?  ■ Reynaldo Escobar

Nachdem Ché Guevara Kuba 1965 verlassen hatte, befand sich der legendäre Guerillero in der Welt seiner Phantasie – genauer: Er war mit dem Aufbau einer antiimperialistischen Guerilla-Front am Tanganjikasee beschäftigt, was letztlich aufs gleiche hinauslief.

„Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren“, so der Titel des Buchs, das dieser Tage in der Edition ID-Archiv auf deutsch erscheint, ist eine Montage aus Interviews mit Überlebenden jenes afrikanischen Abenteuers, historischen Dokumenten sowie aus Fragmenten eines bislang unveröffentlichten Textes, den Ché Guevara selbst auf der Basis seines Tagebuchs über die Mission im Kongo schrieb.

Die fast unbekannte Geschichte beginnt im Dezember 1964, fast sechs Jahre nach dem Triumph der Revolution in Kuba. Ché Guevara, zu jenem Zeitpunkt 36 Jahre alt und kubanischer Industrieminister, bricht auf zu einer ausgedehnten offiziellen Reise quer durch Afrika. Das Buch erzählt seine Treffen mit nationalistisch-progressiven Staatschefs und Führern der antikolonialen Bewegungen in verschiedenen Ländern – und schließlich die Vereinbarungen über die kubanische Unterstützung der Guerilla im damaligen Belgisch-Kongo. Es berichtet über die Auswahl der kubanischen Kämpfer, ihre Ausbildung und schließlich ihre Ausreise aus Kuba und ihre Ankunft auf einem Kontinent, von dem sie nur entfernte Vorstellungen hatten, dafür aber die sichere Aussicht, dort mit der Waffe in der Hand gegen den Imperialismus zu kämpfen: „Man lebt mit dem Gefühl, Geschichte zu machen. Daß dies der Anfang von etwas Großem sein könnte.“

Dies war in der Tat auch der Eindruck, den wir Kubaner hatten, als Fidel Castro Anfang 1965 in Havanna jenen berühmten Brief des Ché verlas, in dem der unermüdliche Guerillero seinen Abschied von Kuba nahm und ankündigte: „Andere Gegenden der Erde verlangen nach der Unterstützung durch meine bescheidenen Anstrengungen...“ Dieser Brief löste ein Fieber der Spekulationen aus, wo denn nun genau diese „neuen Schlachtfelder“ wären, auf die der Ché zog, um „Ein, zwei, viele Vietnam“ zu schaffen.

Doch das Unternehmen im Kongo sollte alles andere als einen zweiten Vietnamkrieg entfachen. Erst nach ganzen 191 Seiten – beziehungsweise sechs Monate nach der Ankunft im Kongo – taucht überhaupt jener Zwischentitel auf, auf den der Leser seit den ersten Zeilen doch irgendwie wartet: „Ché im Gefecht“.

Aber auch da wird von keiner großen Schlacht der Guerilleros berichtet, sondern von einem Schußwechsel während eines ungeordneten Rückzugs, als Chés Truppen ihr Hauptlager aufgeben müssen und dabei Waffen, Munition, Proviant und ihre Funkstation verlieren. „Meine persönliche Moral“, schrieb der Ché in sein Tagebuch, „befand sich auf einem fürchterlichen Tiefpunkt; ich fühlte mich schwach und aus Mangel an Übersicht schuldig an diesem Desaster“ (S. 193).

Es war gerade nicht die Härte der Kämpfe, sondern vielmehr deren fast völliges Fehlen, das – zusammen mit dem Desinteresse der afrikanischen Führer – die ersten unter den Internationalisten jener heroischen Mission zur Aufgabe brachte und schließlich auch den Ché zu der Entscheidung, das Unterfangen abzublasen und sieglos nach Kuba zurückzukehren: „Im entscheidenden Moment wagte ich nicht, das äußerste Opfer zu verlangen“, schreibt Ché nach dem Ende der Operationen in seiner zusammenfassenden Selbstkritik: „Ich denke, daß ich (...) einer bestimmten Anzahl Compañeros diese letzte Geste hätte abverlangen müssen, wenigen nur, doch wir hätten bleiben müssen“ (S. 236).

Statt dieser „letzten Geste“ blieb Ché für mehrere Wochen im ruhigen Daressalam (Tansania), um dort in der kubanischen Botschaft auf der Basis seiner Tagebuchaufzeichnungen ein Manuskript mit dem Titel „Passagen des revolutionären Krieges (Der Kongo)“ zu schreiben: „Dies ist die Geschichte eines Scheiterns“ (S. 234). Dieser bislang unbekannte Text Ché Guevaras bildet das Kernstück von „Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren“. Und es ist ein Buch, bei dem seine Entstehung mindestens genauso spannend ist wie sein Inhalt.

Die Autoren – der mexikanische Kriminalschriftsteller Paco Ignacio Taibo II und die kubanischen Journalisten Froilán Escobar und Félix Guerra – brüsten sich in der Einleitung damit, daß es ihnen mit diesem Werk gelingt, „das bestgehütete Geheimnis der kubanischen Revolution zu lüften“ (S. 5). Sie verweisen allerdings an keiner Stelle darauf, daß das Buch mit der offiziellen Erlaubnis der kubanischen Behörden entstanden ist (wenn nicht gar in ihrem Auftrag). Wir sollen also in aller Naivität glauben, daß in Kuba normale Journalisten und ein ausländischer Schriftsteller auf eigene Faust die brisantesten Forschungen anstellen dürfen und die größten Geheimnisse aufdecken können, um sie danach weltweit und mit völliger Freiheit als Enthüllungsstories zu veröffentlichen.

Die Version der Autoren ist, daß ihnen der Kongo-Text des Ché „von einer Persönlichkeit aus dem kubanischen Staatsapparat, die es vorzieht, anonym zu bleiben“ zugespielt wurde. Dabei ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß der Kongo-Bericht des Ché in jene Kategorie kubanischer Staatsgeheimnisse fällt, die nur durch eine explizite Genehmigung Fidel Castros aus dem Gefrierfach gezogen werden können.

Und dies betrifft nicht nur das Manuskript des Ché, sondern praktisch die gesamte Dokumentation, auf der das Buch basiert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Autoren zitieren ein Manuskript mit dem kilometerlangen Titel „Projekt für einen Bericht für die zentrale Veranstaltung zur Erinnerung an den 20. Jahrestag der Bildung, Ausreise und Erfüllung der internationalistischen Mission der Kolumne 1 in Kongo-Leopoldville“. Wenn die Kongo-Mission 1965 stattfand, dann war dieser 20. Jahrestag folglich 1985 – und damit zwei Jahre bevor Chés Aufenthalt im Kongo zum allerersten Mal überhaupt öffentlich bestätigt wurde, durch ein Interview, das Fidel Castro im Juni 1987 der italienischen Journalistin Gianna Mina gab. Jener 20. Jahrestag wurde also definitiv nicht öffentlich begangen, und jeder kann sich selber ausrechnen, daß das „Projekt für einen Bericht“ für diese Veranstaltung wohl auch nicht in einer x-beliebigen Schublade aufbewahrt wird. [Anm. d. Ü.: In der deutschen Ausgabe wurde bedauerlicherweise auf die Bibliographie des spanischen Originals verzichtet.]

Und dann die Interviews mit ehemaligen Teilnehmern von Chés Kongo-Mission, viele davon heute noch Offiziere der kubanischen Armee im aktiven Dienst. Was würden diese einem Journalisten – noch dazu, wenn ein Ausländer dabei ist – über das „bestgehütete Geheimnis der kubanischen Revolution“ erzählen, wenn sie nicht die Erlaubnis, wenn nicht gar den Befehl hätten, es zu tun?

Und wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß die Publikation von höchster Stelle autorisiert worden ist, dann wohl die Tatsache, daß keiner der Verfasser dafür verhaftet oder sonstwie sanktioniert worden ist. Ganz im Gegenteil: Paco Ignacio Taibo II weiß vielmehr von einem herzlichen Empfang beim kubanischen Kulturminister zu berichten, mit dem er munter über das Buch geplaudert habe – nicht unbedingt die in Kuba übliche Reaktion auf Geheimnisverrat. All das nimmt dem Buch nicht seinen Wert – ganz im Gegenteil, es macht aus ihm eine offizielle Wahrheit –, aber es nimmt ihm seinen Charme.

War einst jahrelang über den Aufenthalt des Ché nach seinem Abschied aus Kuba gerätselt worden, geben Art, Weise und Datum der Veröffentlichung von „Das Jahr, das wir nirgendwo waren“ nun neue Rätsel auf: Mit welchen Intentionen werden heute diese Dokumente öffentlich gemacht, die am bislang heilig gehaltenen Bild des „heroischen Guerillero“ kratzen?

Gerade bei der Lektüre von Guevaras eigener Darstellung drängt sich dem unvoreingenommenen Leser die Frage auf, wie Ché sich fast unmittelbar nach diesem Desaster gleich an den Aufbau der nächsten Guerilla-Front, diesmal in Bolivien, machen konnte. Ché selbst antwortet darauf in seinem Kongo-Resümee: „Der Sieg ist eine große Quelle positiver Erfahrungen, aber ebenso ist es die Niederlage...“ (S. 235). Doch wenn die Niederlage im Kongo eine Quelle positiver Erfahrungen war, dann scheint Bolivien nicht das beste Beispiel, dies zu belegen.

Das Buch erzählt, wie es Ché zu keinem Zeitpunkt gelingt, die afrikanischen Kämpfer davon zu überzeugen, daß der Hauptwiderspruch der Kampf gegen den Imperialismus war. Es gelang ihm offenkundig auch nie, die Differenzen zwischen den Ethnien, die noch heute, 30 Jahre später, Ruanda und Burundi blutig zerreißen, zu überwinden (oder auch nur zu verstehen). Dieses gleiche Unverständnis sollte sich ein Jahr später in den Bergen Boliviens wiederholen, wo es Chés Guerilla auch nach etlichen Monaten nicht gelang, auch nur einen einzigen Bauern der Gegend in ihre Reihen zu integrieren.

Ich habe mit einigen Leuten gesprochen, die das Buch gelesen haben und in den Bemerkungen Guevaras über die afrikanischen Kämpfer Anflüge von Rassismus sehen. Ich bin anderer Meinung. Die beißende Kritik, die Guevara an den afrikanischen Führern und an der mangelnden Disziplin und Kampfmoral der afrikanischen Soldaten äußert, entstammen seiner Überzeugung, daß das Ziel das korrekte war und daß man für das korrekte Ziel mit aller Kraft zu kämpfen hatte und selbstverständlich auch bereit sein mußte, dafür zu sterben. Diese Überzeugung aber entspricht weniger einem Ethnozentrismus als vielmehr einem „Ideologiezentrismus“ Guevaras.

Wenn die Soldaten nicht kämpfen wollen, ohne vorher den Schutz einer „Dawa“ – einer magischen Lotion, die sie unverletzbar macht – erhalten zu haben, oder wenn sie ihre Gewehre fallen lassen und fliehend davonrennen, sobald der erste Schuß fällt, dann entweder, weil sie feige sind – so Guevaras Erklärung –, oder aber, weil sie nicht ausreichend überzeugt davon sind, daß dies wirklich ihr Kampf ist und das Ziel es lohnt, ihr Leben dafür zu opfern. Vielleicht war es einfach sein Egozentrismus, der Ché daran hinderte, diese zweite Möglichkeit zu sehen, aber ich bin sicher, daß es nicht Rassismus war.

Andere beklagten, daß die Autoren am Ende keine Schlußfolgerungen anbieten. Mich hat dies wenig gestört, ich habe meine eigenen daraus gezogen. In jedem Fall blieb mir nach der Lektüre der Wunsch weiterzulesen. Wohin ist Ché von Daressalam aus geflogen, bevor er wieder nach Kuba zurückkehrte? Wie war dort sein Wiedersehen mit Fidel Castro? Wo sind die Teile, die die Brücke bilden zwischen dem Text aus dem Kongo und dem Tagebuch in Bolivien? Und gerade daß die Verfasser von „Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren“ nicht den vollständigen Text von Chés Kongo-Manuskript, sondern nur ausgewählte Fragmente daraus zitieren, macht die Frage um so interessanter, was in dem zurückgehaltenen Rest steht. Vielleicht muß man warten, bis eine andere Person aus dem kubanischen Staatsapparat – oder dieser selbst – die fehlenden Seiten einem anderen Forscher zukommen läßt.

Paco Ignacio Taibo II/Froilán Escobar/Félix Guerra: „Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren. Ernesto Ché Guevera und die afrikanische Guerilla“. Aus dem Spanischen von Jens Andermann, Edition ID-Archiv (Berlin), September 1996, 253 Seiten, 29,80 DM.

Der Autor ist kubanischer Journalist, der 1989 wegen „ideologischer Differenzen“ aus der Zeitung des Kommunistischen Jugendverbands entlassen wurde und der seitdem seinen Beruf in Kuba nicht mehr ausüben kann. Er lebt in Havanna.

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