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Zur Not auch nach Toronto

Städte im Film (I). New York: Filmemachen zwischen Metapherndschungel und Gewerkschaftsterror. Aufgemerkt: Nicht überall, wo New York draufsteht, ist auch New York drin  ■ Von Lars Penning

Kürzlich versuchte das Branchenblatt Variety seinen Lesern einen Drehort schmackhaft zu machen, der eigentlich als bestens etabliert gelten dürfte: Ein Schwenk über die Skyline von New York reicht bekanntermaßen, um im Zuschauer ganze Bildarsenale der klassischen Moderne, der sozialen Kälte oder der urbanen Folklore aufziehen zu lassen. Spike Lees brechtisch-verweisende Straßenschilder, Abel Ferraras Kokainschluchten und Woody Allens Russian Tearoom schieben sich dem New-York-Reisenden stets als Ready-mades vor die Linse. Wer kann am Empire State Building vorbeigehen, ohne an Cary Grant zu denken, der in „An Affaire to Remember“ vergeblich auf der Aussichtsplattform auf die Dame wartete, die er auf einem Schiff kennengelernt hatte. Als regelrechter Fremdenführer funktionierte das Musical „On the Town“, in dem die drei Matrosen praktisch jede relevante Aussicht in Augenschein nahmen. Oft und gern ist New York auch die Stadt, in der die Eingeborenen zu Fremden werden: Martin Scorseses „After Hours“ bestraft einen lustig angelegten Ausflug in die Subkultur mit einem endlosen Albtraum.

Allerdings ist, wo New York draufsteht, nicht immer auch New York drin. In den Glanzzeiten der Studioära war der Schauplatz New York nur eine Illusion aus Holz und Pappe. Keinem Studioboß wäre es damals in den Sinn gekommen, seine Filmcrews auf teure Reisen zur Ostküste zu schicken, nur um zu filmen, was man auf dem eigenen Studiogelände viel billiger selbst bauen konnte. Der „King Kong“-Regisseur Ernest Schoedsack reiste 1932 nur nach New York, um das Dach des Empire State Buildings auszumessen, um es dann in Originalproportionen auf dem Studiogelände der RKO errichten lassen zu können.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg – wahrscheinlich nicht zuletzt dem Authentizitätsdiktat des Neorealismus geschuldet – wurde on location gefilmt, wie in Billy Wilders „The Lost Weekend“. In einer langen, dramatischen Sequenz sieht man Ray Milland als alkoholabhängigen Schriftsteller verzweifelt durch die Stadt irren, um seine Schreibmaschine zu versetzen und Geld aufzutreiben. Die neue Angst in der Stadt sah man in semidokumentarisch gefilmten Krimis wie „The House on 92nd Street“ (1945) oder „The Naked City“ (1947).

Mit dem Zusammenbruch des klassischen Studiosystems Ende der fünfziger Jahre und der Entlassung des festangestellten Personals wurden die Studiogelände für die Studios endgültig unrentabel; die neuen, unabhängigen Produzenten drehten bald nur noch an Originalschauplätzen. Aber das hieß nicht, daß die Straßen von New York nun auch dort gefilmt wurden: Selbst ein scheinbar archetypischer New-York-Film wie Martin Scorseses „Mean Streets“ (1973) entstand aus Kostengründen größtenteils an der Westküste. Das ändert nichts daran, daß gerade dieser Film für nachfolgende Independent-Regisseure wie Quentin Tarantino oder Abel Ferrara das Modelll des „Neighborhood“-Films ist.

Das größte Problem bei Dreharbeiten vor Ort sind die Forderungen der Gewerkschaften. 1990 kam es zwischen Hollywood und den New Yorker Unions zum großen Eklat: Den auslaufenden Tarifvertrag mit den Gewerkschaften der Kameraleute und der Bühnenarbeit nahmen die in der Alliance of Motion Picture and Television Producers organisierten Studios (20th Century Fox, Warner Bros., Paramount, Orion und MGM) zum Anlaß, drastische Abstriche bei den Überstundenregelungen zu verlangen. Bislang waren den New Yorker Gewerkschaftsmitgliedern Wochenend- und Nachtarbeit grundsätzlich als Überstunden vergütet worden. Die neue Regelung sah hingegen vor, daß an fünf Tagen der Woche (egal, welchen) der normale Tariflohn zu akzeptieren sei. Außerdem verlangte Hollywood eine größere Flexibilität beim Arbeitszeitbeginn. Als Ausgleich boten die Studios 50- bis 60prozentige Erhöhungen ihrer Beiträge zu Renten- und Krankenversicherungen an. Da in New York wegen des starken Verkehrs an Werktagen jedoch häufig am Wochenende oder nachts gedreht wird, rechneten die Gewerkschaftsvertreter mit realen Einkommenseinbußen ihrer Mitglieder um etwa 20 bis 40 Prozent und lehnten die Verträge ab. Daraufhin verkündeten die Studios einen unbegrenzten Boykott des Drehorts New York und verlegten ihre Produktionen nach Pittsburgh oder Chicago. Nach nahezu sieben Monaten Boykott stimmten die Gewerkschaften im Mai 1991 schließlich zähneknirschend dem neuen Tarifvertrag zu. Nicht nur waren ihre Mitglieder nach einem halben Jahr ohne Arbeit zermürbt, auch der Druck von außen war zunehmend heftiger geworden. So rechnete beispielsweise die Vertreterin des Mayor's Office for Film, Theater and Broadcasting verärgert vor, daß der Stadt in einem halben Jahr ein Schaden von etwa 100 Millionen Dollar durch entgangene Steuereinnahmen entstanden sei. Am meisten gelitten hatten Transportfirmen, Catering Services oder Equipment-Verleihe, die nach Rückgängen von 80 bis 90 Prozent ihres Geschäfts oft kurz vor dem Bankrott standen.

Mittlerweile hat sich der Drehort New York vom Boykott wieder ganz ordentlich erholt: 1994 hatte man mit 2.553 Drehtagen für 157 Spielfilme Steigerungsraten von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr aufzuweisen. Nach Schätzungen des Mayor's Office fließen durch die Filmproduktionen indirekt insgesamt etwa 4,3 Milliarden Dollar pro Jahr nach New York.

Auch für die Low-Budget-Produktionen ist es mittlerweile einfacher geworden, Gewerkschaftspersonal zu engagieren, weil sich die Unions unter dem zunehmenden Druck des Boykotts bereitfanden, den Produzenten mit kleinerem Budget Sonderkonditionen einzuräumen. Schwer haben es in New York dagegen vor allem Produktionen mit mittleren Budgets von sechs bis zwölf Millionen Dollar, wie der Filmproduzent John Penotti in Variety berichtete: „Es ist zuviel Geld, um von seiten der Unions auf Entgegenkommen zu hoffen, und nicht genug Geld, um die regulären Gewerkschaftstarife bezahlen zu können.“

Weitaus weniger Probleme mit den Gewerkschaften gibt es dagegen in Kanada. Nicht selten wurden deshalb Städte wie Montreal, Toronto oder Vancouver als Doubles für New York benutzt. So hat zum Beispiel „Rumble in the Bronx“, der neue Film von Hongkong-Star Jackie Chan, ebendiesen New Yorker Stadtteil nicht einmal von weitem gesehen: Mit fröhlicher Unbekümmertheit wird zwischen die in Vancouver gedrehten Szenen von Jackies Phantasie- Bronx gelegentlich eine Einstellung der Skyline von Manhattan geschnitten – ganz, als müsse man dem Publikum gelegentlich versichern, daß man sich immer noch in New York befindet.

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