Zum Himmelsballett

Heute steigen Drachen über den Strand  ■ Von Klaus Sieg

„Am Samstag um 11 Uhr wird sich der Himmel über dem Ostseestrand bei Damp 2000 schlagartig verdunkeln.“ Nicht vom Seewetteramt, sondern von Jürgen Lienau stammt diese Prognose für heute. Der 49jährige veranstaltet an diesem Wochenende eines der größten Drachenfeste Deutschlands. Erwartet werden 180.000 Zuschauer und einige hundert Drachen.

Wenn die Lautsprecheranlage der betonierten Ferienanlage das „Tako-Kichi“ ausruft, was soviel bedeutet wie „Drachen verrückt“, beginnt das Fest mit einem gemeinsamen Drachenstart. Einer der Höhepunkte soll der Flug des größten Drachen der Welt sein, der mit seiner 933 Quadratmeter großen Segelfläche Zugkräfte bis zu 5 Tonnen entwickeln kann.

Derartige Modelle hat es in Asien, wo vor über 2000 Jahren erstmals Drachen in den Himmel stiegen, wahrscheinlich noch nicht gegeben. In der westlichen Welt wurden die ersten Fluggeräte zunächst für Militär- und Forschungszwecke benutzt, 1752 von Benjamin Franklin etwa zum Nachweis der Gewitterelektrizität. Seinen Aufstieg zum Kinderspielzeug erlebte der Drachen dann nach dem Zweiten Weltkrieg.

Heute begeistern sich zunehmend sogenannte Erwachsene für die bunten Flieger, was sich selbstredend in einer boomenden Ausrüsterbranche niederschlägt. Bis zu 7000 Mark haben Kunden etwa in Lienaus Hamburger Laden „Wolkenstürmer“ schon für Sonderanfertigungen hingeblättert. Einfache Lenkdrachen kann man bereits für 30 Mark erwerben. Am billigsten ist aber immer noch das Selbstbasteln mit einem 90-Liter-Müllsack, drei Leisten und ein wenig Kleinmaterial.

Mit derartigen Modellen hat man allerdings bei Wettkämpfen, die nach internationalem Regelwerk ausgefochten werden, keine Chance. Bei den Rokkaku-Kämpfen etwa, die nach alter japanischer Tradition ausgerichtet werden, gilt es, mit der eigenen Leine die des gegnerischen Drachens einzufangen und diesen zu Fall zu bringen.

Weniger hektisch ist die Drachen-Luftbildfotografie: eine reizvolle Gelegenheit, sich selbst einmal aus der Perspektive seines Drachens zu betrachten. Doch Vorsicht! Eine gewisse Erfahrung im Kampf mit der Leine ist ratsam, bevor die teure Spiegelreflex auf Reisen geschickt wird.

Historisches Drachengelände ist in Hamburg das Heiligengeistfeld. Gerne würden Lienau und sein Team hier einmal ein Himmelsballett veranstalten. Doch bereits die Genehmigung zur Überschreitung der maximal erlaubten Flughöhe von 100 Metern stellt ein Problem dar, ganz abgesehen von zahlreichen anderen Sicherheitsbestimmungen. So bleibt Drachenbändigern nur der Weg an die Ostsee und die Hoffnung auf optimales Wetter: Blauer Himmel, drei bis vier Windstärken, am liebsten aus einer Richtung.