: Ermordetes und Leeres
■ Diverse Gastspiele und Premieren an Hamburgs Theatern
Zerbombt im Malersaal
Dieses Stück ist ekelhaft, schonungslos, grausam und deprimierend. In kontinuierlicher Steigerung bis zum Augen-aussaugen und Kannibalismus an einem Baby entwickelt sich aus einer alltäglichen Szene ein Massaker, das keineswegs mehr metaphorisch bleibt. Hier geht es um den wirklichen Krieg, der mit jeder neuen Bestialität einen Quantensprung in eine nächst höhere Ebene der Grausamkeit auslöst. Vergewaltigung ist da schlußendlich nur noch ein Tauschgeschäft gegen Nahrung und somit fast ein humaner Akt, wenn nebenan Kinder an ihren Hoden aufgehängt werden.
Sarah Kanes kompromißlose Konsequenz, mit der sie private und gesellschaftliche Kriegsgeschichte ineinander verkeilt, wird von Regisseur Anselm Weber ziemlich ungefiltert auf die Bühne gebracht. Die Erzählung vom krebskranken Sensationsreporter Ian (Markus Boysen), der sich zur sexuellen Henkersmahlzeit seine kindhafte Ex-Freundin Cate (Inka Friedrich) in ein Luxushotel in Leeds einlädt, beginnt wie die Skizze einer vermurksten Beziehung, in der Zynismus und Naivität aneinander Gefallen finden, aber natürlich bei der Berührung nur in die Katastrophe schlittern können.
Daß diese Katastrophe sich dann im Paralleluniversum eines bestialischen Krieges, wenn auch im selben Hotelzimmer, abspielt, ist die theatralische Interpretation des Glaubens der Autorin, daß der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mit Sicherheit in die bewaffnete Auseinandersetzung führt, und zwar hier, am Ort seiner Erfindung und größten Macht. Daß dieser Krieg ohne Vorankündigung wie eine biblische Strafe über die Anwesenden kommt, erscheint angesichts der täglichen Massaker kaum noch überzogen und formuliert zudem den Anspruch, das blinde Vertrauen in die Sicherheit des heutigen Systems zu verstören.
Angesichts des inszenierten Grauens scheint es durchaus verzeihlich, daß man manchmal das Gefühl hat, die Schauspieler wissen nicht so richtig, wie sie ihre Figuren spielen sollen, denn diese Extremsituationen lassen sich nicht mehr mittels Einfühlung erarbeiten. Andererseits wäre alles andere als dokumentarisches Darstellen für das Stück die Selbstauflösung.
Da ist es fast schon eine tröstende Hilfe, daß die Zuschauer größtenteils rundum über dem Geschehen sitzen, so daß, während die Daumenschraube des Schreckens weiter angezogen wird, man mit einem Blick über die Szene gewahr wird, daß es doch noch reale Menschlichkeit gibt.
Till Briegleb
Theater a.d. Ruhr: „Im Dickicht der Städte“
Bertolt Brecht im Rahmen einer multikulturellen Veranstaltung wie dem „Hoffnung der Künste“-Festival läßt zunächst vermuten, daß man mit sozialkritischen Bedeutungen, politisch korrektem Theater und der unerträglichen Didaktik, wie wir sie alle aus Brechts späten Lehrstücken kennen, zugedonnert wird. Doch anstelle der erwarteten Anklage „They Don't Care About Us“ durften die Zuschauer „I'm Bad“ hören. Dieses Michael Jackson-Zitat, untergebracht in Roberto Ciullis Inszenierung des Brechtschen Frühwerks Im Dickicht der Städte, kennzeichnet die Grundhaltung der im Stück auftretenden Charaktere.
Wichtig für Ciulli ist nicht die Werktreue, sondern die Transparenz möglicher Inhalte und ein sorgfältiger Umgang mit einer Brechtschen Ästhetik. Hier wird nicht plump verfremdet, sondern abstrahiert, verzerrt und ironisiert. Der physische und verbale Kampf um Liebe, Kapital und die Freiheit des Denkens ist ein „jeder gegen jeden“ – am Ende jeder gegen sich selbst, wie im fernöstlichen Schattenboxen, wo der Feind nicht mehr präsent ist.
Ciulli hat für diese Inszenierung eine eigene Sprache gefunden, die sich nicht auf den bilingualen deutsch/türkischen Sprachraum konzentriert, sondern gespickt ist mit spanischen und englischen Wortfetzen. Sprache bedeutet hier nicht mehr Herkunft, sie wird zum Symbol der Macht, denn die jeweiligen Machthaber sind im Besitz eines zum Hund degradierten Sklaven, der als einziger alle Sprachen beherrscht und Kommunikation erst möglich macht. Dieser ist am Ende der letzte Überlebende auf einem verwüsteten Schlachtfeld.
Im Zeitalter des Spätkapitalismus läßt Ciulli den vermeintlichen Klassenfeind genauso vage erscheinen, wie die derzeitige weltpolitische Lage es nahelegt, in der Ursachen für Konflikte und Krisen nicht mehr klar verifizierbar sind. Erst am Ende löst Ciulli mit Brechts Worten die wirre Situation auf. „Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit.“ Darauf werden wir wohl noch weiter warten müssen. Claude Jansen
Neuer Tanz auf Kampnagel
Dunkle Wesen ohne Kopf leben in einem fremden Welt-Raum. Ihre zeitliche Verortung fällt schwer, da sie ihr Leben schon beginnen, bevor das Publikum den Saal betritt.
Neuer Tanz aus Düsseldorf greift Elemente der Neuen Slovenischen Kunst auf: in der Brauntönigkeit der Kostüme, der harten Abruptheit der lauten Märsche quer über die Bühne oder in den unbewegt harten Gesichtern der Tänzer und Tänzerinnen, die sich wie Plastikroboter benehmen. Was sich bei NSK aber auf die Geschichte Osteuropas und den Nationalsozialismus bezieht, wirkt hier seltsam oberflächlich, postmodern und dekorativ. Es fehlt der inhaltliche Rahmen – und das muß keine Geschichte sein. Und auch der formale in Form eines riesigen metallischen Rahmens leistet nichts als Klammer. Da hilft es den Zuschauern nichts, daß sie, nach dem Rat des Choreografen VA Wölfl, als Reaktor das Unvollendete vollenden dürfen.
Die Wanderung im kariert kostümierten Gleichschritt quer durch Zeiträume startet in einer zukünftigen Welt von Wesen, die sich sprachlos durch Handzeichen verständigen, sich zu zweit ineinander verschlungen auf dem Boden wälzen, sich dabei den Mund zuhaltend. Die Symbolik von Bewegungsarten verschiedener Epochen wird gezeigt, so begleiten Schreckgeräusche einer E-Gitarre Varianten von Schießbewegungen in Kriegszeiten auf bewegte Opfer. Doch auch dieser Zeitraum bleibt mit Rave-Musik und einer erst russischen, dann englischen Stimme – „The Killings Are Going On, I Do Not Know, If I Killed You“ – unverbindlich und flach.
Die zweite Schmerzszene kennzeichnet die jetzige Zeit, in der jeder einsam aufzufallen sucht. Die einen lachen und zittern in verkrampfter Nervosität, während andere kühl und gelassen heimlich zuschlagen. Großäugiges Staunen, Bitt- und Betbewegungen, das Fadenkreuz und die gebende Hand symbolisieren die Apokalypse, auf die ruhige Einschlafbewegungen und fortwährendes Gehen im Neonlicht folgen. Und lose hing der Raum.
Kerstin Kellermann
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