: Von Kantor zu Strehler
■ Die Königsstadt Krakau lädt zum Festival europäischer Theater. Neun hochkarätige Ensembles sind angereist.
Eine Frau mit Gießkanne eilt vorbei und schüttelt mißbilligend den Kopf. Ihr Interesse gilt einem Grab. Auf einer matt schimmernden Steinplatte mit eingraviertem Namenszug erhebt sich ein schlichter Tisch, der aus einem altertümlichen Klassenzimmer stammen könnte. Auf der unbequemen Bank sitzt ein Junge in einer Schuluniform, die ihm viel zu klein geworden ist. Stocksteif sitzt er da, die Hände brav auf den Tisch gelegt, so als erwarte er jeden Augenblick den Schlag des Lehrers mit dem Lineal. Sein Gesicht glänzt im Sonnenlicht, sein Blick schweift verloren in die Ferne. Ein überdimensionales Kreuz ist ihm zur Seite gerammt, um seinen Sockel winden sich frische Lilien. Wir befinden uns auf dem Krakauer Rakowicki-Friedhof vor dem Grab Tadeusz Kantors. Das Theaterstück „Die tote Klasse“, dem die Skulptur nachempfunden ist, hat Kantor in aller Welt berühmt gemacht. Keinem Dramatiker gelang es, für die Ängste und Hoffnungen der Polen einen treffenderen Ausdruck zu finden. Vor sechs Jahren ist Kantor gestorben – im Jahr des Neubeginns, als sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei auflöste und viele Menschen glaubten, der Weg sei frei für eine bessere, von Sorgen befreite Zeit. Was wohl würde Kantor empfinden, wenn er heute – im Spätsommer 1996 – durch die Straßen seiner Stadt spazierte?
Das moderne Krakau hat sich neue Helden erwählt. Sie kommen aus den Metropolen Westeuropas und der USA, präsentieren ihre Markennamen im Schatten von Kirchen und Klöstern. Der Wandel ist auch auf dem Rynek spürbar, dem Herzstück der Stadt. Auf dem größten mittelalterlichen Platz Europas pulsiert das Leben wie nirgendwo sonst in Polen. Wer sich in einem der vielen Terrassencafés niederläßt, taucht ein in eine Atmosphäre fast südländischer Ausgelassenheit. Vor der Kulisse des Goethe-Instituts und anderer prachtvoller Renaissancepaläste flanieren Studenten und betuchte Bürger. Jugendliche lassen sich in bunten Rikschas über den Platz fahren, Touristen besteigen Pferdekutschen, die noch aus Habsburger Zeit stammen könnten.
Allen, die die einstige Königsstadt kennenlernen möchten, bevor sich der Touristenstrom von Prag nach Krakau verlagert, bietet sich in diesem Herbst ein willkommener Anlaß. Glanzlicht der diesjährigen Kultursaison ist das Festival europäischer Theater, bei dem sich vom 20. September bis 10. Oktober unter der Regie Giorgio Strehlers neun hochkarätige Ensembles dem Publikum vorstellen. Zu den Eingeladenen gehören z.B. das Mailänder Teatro Piccolo, das Düsseldorfer Schauspielhaus und das Teatre Lliure aus Barcelona. Eröffnet wird das Festival mit „Yvonne, Prinzessin von Burgund“. Das Gombrowicz-Stück von der weiblichen Anti-Heldin wurde 1957 in Krakau uraufgeführt. Jetzt kehrt „Yvonne“ nach Krakau zurück – in einer von Ingmar Bergman geleiteten Inszenierung. Aufführungsorte des Festivals sind das Alte Theater und das Slowacki-Theater, beide am Rande der autofreien Altstadt gelegen und durch die Planty, einen Gürtel grüner Parkanlagen, vom hektischen Treiben der Außenbezirke getrennt. Von Izabella Gawin und
Dieter Schulze
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