Drang nach draußen

■ Wie sich die Nationalphilologie müht, transnational zu werden - Germanisten- tag in Frankfurt/Main, 150 Jahre danach

Als am 24. September 1846 im Kaisersaal des Frankfurter Römer die erste „Germanistenversammlung“ zusammentrat, waren die meisten Teilnehmer Juristen; etliche von ihnen wohl deshalb, weil sie an der anschließenden Konferenz der „Freunde der Gefängnisreform“ teilnehmen wollten und so zwei Tagungen mit einer Anreise erledigen konnten. Auch ein Gutteil der Tagesordnung war rechtshistorisch geprägt, brennend interessierten die Konturen einer eigenständig germanischen gegenüber der römischen Rechtstradition. Als Blickfänge freilich fungierten Philologen.

Jacob Grimm wurde auf Vorschlag Ludwig Uhlands zum Präsidenten gewählt, und auf Uhland seinerseits ruhten, zeitgenössischem Bericht zufolge, besonders die Augen der Damen – dies freilich außerhalb des Saales, denn drinnen saßen nur Männer.

Die Dreiheit deutscher Rechts-, Geschichts- und Sprachforschung, von Jacob Grimm gleich zu Konferenzbeginn in den „bündigen Ausdruck“ der Germanistik gefaßt, hatte eminent politischen Charakter. Sie suchte nach den kulturellen Prinzipien der Nation, und in gewissem Sinn war der Gelehrtendisput ein Probelauf zur Parlamentsdebatte in der Paulskirche zwei Jahre später. Jetzt hat in Frankfurt am Main wieder eine Germanistenversammlung stattgefunden, zur Erinnerung an die erste, initiiert und organisiert an der Universität von E.E. Metzner. Zu ihrer Eröffnung beklagte Bundespräsident Roman Herzog vor großer Öffentlichkeit „die öffentliche Resonanzlosigkeit der gegenwärtigen Germanistik“ und forderte „germanistische Stimmen zu den öffentlichen Debatten“. Ein Zurück zur Konstellation von 1846 war damit nicht gemeint, jedenfalls keine Wiedervereinigung mit Rechts- und Geschichtswissenschaft. Das Fach Germanistik ist im heute geläufigen Sinn zuständig allein für Sprache und Literatur, nicht für Staatenbildung. Der Resonanzboden der deutschen Nation, mehrfach geborsten, gibt nur unreine Töne her.

Die Frage nach besser tönender Resonanz beschäftigte in Frankfurt nicht nur den Bundespräsidenten, sie beschäftigte mehrere Dutzend Wissenschaftler in vier parallel geführten Sektionen fast drei Tage lang. „Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa“ hieß ihr Obertitel und verkündete mit Schreibstubencharme die Bewegungsabsicht: nach draußen. Eine Germanistik in der Mehrsprachigkeit forderte in seinem Festvortrag Eberhard Lämmert – er selbst übrigens, wirkungsmächtiger Germanist, Komparatist, Hochschulpolitiker, das lebende Gegenbild von resonanzloser Philologie.

Lämmerts Forderung blieb nicht einsam. Eine ganze Reihe von Sektionsbeiträgen war von der (zumindest theoretisch formulierten) Ansicht durchsetzt, daß Germanisten sich auch in anderen Sprachen und Literaturen zurechtfinden sollten. Der Rückblick in vormoderne Zeiten bezeugt, daß über weite Strecken literarische Bildung und Sprachkultur nicht an die Muttersprache geknüpft war.

Wer gegenwärtig über das Zustandekommen europäischer Kulturmuster nachdenkt, findet im Mittelalter einen vorzüglichen Referenzraum. Gelehrtenlatein, Salonfranzösisch, Opernitalienisch – zumal die deutsche Sprach- und Literaturgeschichte wäre eine dünne Brühe ohne solche Brocken. Und bereichert einen die Lektüre auswärtiger Weltliteratur nicht weit mehr als die mit „Andacht zum Unbedeutenden“ (U. Wyss) betriebene Splittersuche in den altdeutschen Wäldern?

Die globalisierenden Kommunikationssysteme und die Dominanz der Bilder scheinen eine Transformation der Philologien zugunsten neu zugeschnittener Medien- und Kulturwissenschaften nahezulegen.

Der „Auslandsgermanistik“ (ein häßlicher, aber schwer ersetzbarer Terminus) hat man verschiedentlich Leitbildungsqualität zugesprochen, weil sie einerseits komprimiert, andererseits offen in andersartiger Umgebung existiere. Freilich gerade auf der „ausländischen“ Seite wurde der Drang nach Entgrenzung und Entnationalisierung weniger begeistert aufgenommen (Eda Sagarra, Michel Espagne). Das allzu eifrige Beseitigen nationaler und disziplinärer Borniertheiten kann leicht in eine unangenehm expansive Allzuständigkeit ausarten.

Humaner wäre ein föderales Konzept mit eingespielter Arbeits- und Kompetenzverteilung, worin Eigenheiten und Fremdheiten, auch Differenzen und Kontroversen bewußt festgehalten und ausgekostet werden können. Für die Betreuung der deutschen Sprache und Literatur ist, so folgt daraus schlicht, die Germanistik des deutschsprachigen Raums besonders breit verantwortlich; welche sonst?

Ein Phänomen scheint allen Nationalphilologien, der Inlands- wie Auslandsgermanistik gemein zu sein, in diesem Punkte ist die Transnationalität bereits hergestellt; in dem Bedauern darüber, daß hinter dem Gitterwerk von Sekundärlektüren, die sich allenthalben in den Weg schieben, die Primärtexte oft fast verschwinden. Es mag dann dem Lesenden wie dem Schreibenden, dem Referierenden wie dem Rezipierenden so ähnlich gehen wie dem Zoopanther in Rilkes Gedicht. Herzog hat – ein schönes Beispiel angewandten Lyriklesens – vier Verse daraus in seiner Ansprache zitiert, und sie sind auch hier am Platz:

„Sein Blick ist vom Vorübergehn

der Stäbe /

so müd geworden, daß er nichts

mehr hält. /

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe

gäbe/

und hinter tausend Stäben keine Welt.“

Hartmut Kugler