■ Nach dem Gewaltausbruch in Israel muß Benjamin Netanjahu mit der Ideologie der Likud-Pioniere brechen
: Das Vorbild heißt Rabin

Die Steine der Intifada haben den ermordeten israelischen Regierungschef Jitzhak Rabin zu Beginn der 90er Jahre veranlaßt, seine Politik gegenüber den Palästinensern radikal zu ändern. Rabin hat sich entgegen seiner historisch-biographischen Rolle im palästinensisch-israelischen Konflikt für einen Frieden mit den Palästinensern entschieden. Das war alles andere als selbstverständlich. Steht doch die politische Biographie von Rabin beispielhaft für die Durchsetzung des zionistischen Anspruchs auf Palästina, für die Eroberung des Landes, für die Vertreibung der Palästinenser. Die tiefgreifende Wandlung Rabins, der zu Beginn der Intifada im Jahre 1987 den Palästinensern noch buchstäblich die Knochen brechen ließ, mag allein realpolitisch motiviert gewesen sein. Ohne persönliche Überwindung hätte Rabin den Schulterschluß mit Arafat nicht vollziehen können.

Die Kugeln der palästinensischen Sicherheitskräfte und ihrer zivilen Mitstreiter könnten heute bei Netanjahu dieselbe Wirkung erzielen wie einst die Steine der Intifada bei Rabin. Der Likud und seine historischen Führer wie Menachem Begin, Jitzhak Shamir oder Ariel Sharon beantworten Gewalt jedoch stets mit neuer Gewalt. Die Pioniere des Likud haben den Konflikt stets als ausschließlichen verstanden: Entweder die Araber oder wir. Noch drei Jahre nach dem Friedensschluß von Oslo sagte der ehemalige Ministerpräsident Shamir im Gespräch mit der taz, daß seine Regierung die Araber zu Beginn der 90er Jahre in die Knie gezwungen hätte und daß der Friedensschluß von Oslo ganz und gar überflüssig gewesen wäre. Verhandeln als Hinhaltetaktik ja, ansonsten Tatsachen schaffen, Siedlungen bauen, Land enteignen, die Grenzen Erez Israels ausdehnen. Diese Logik ist Teil der Nahostkriege und Teil eines gewachsenen Selbstverständnisses, das historisch die Arbeitspartei einschloß. Den Invasionen in den Libanon stand die Arbeitspartei nur kritisch gegenüber, wenn festgelegte Ziele überschritten wurden. Über die Notwendigkeit, die palästinensischen Feddayin militärisch niederzuschlagen, gab es keinen Zweifel und keinen Streit.

Der heutige Führer des Likud, Benjamin Netanjahu, steht in der Tradition eben dieser Pioniergeneration. Er mag sich auf dem internationalen Parkett wendiger und flexibler geben als Begin oder Shamir, deren terroristische Vergangenheit auch ihre politische Sturheit prägte. Netanjahu will aber nicht weniger als seine Altvorderen, nämlich die Oslo-Vereinbarungen ins Leere laufen lassen, sie von unten aushöhlen. Das aber geht nur über den Weg der Konfrontation, der Konfrontation mit den Palästinensern und der internationalen Gemeinschaft, die den Friedensprozeß will.

PLO-Chef Jassir Arafat wußte, daß er nur abwarten mußte, um die verheerenden Konsequenzen der Netanjahu-Politik auf den Friedensprozeß wirken zu lassen. Arafat gab sich verhandlungs- und gesprächsbereit bis zur Selbstverleugnung. Er schluckte alle Demütigungen durch die neue Regierung, ließ heimlich verhandeln, nahm allen israelischen Terrorismusvorwürfen den Wind aus den Segeln, indem er seine islamistischen Gegner mit brutaler Härte verfolgte, und wartete ab.

Netanjahu tappte, aus Gründen des Selbstverständnisses und der innerisraelischen Koalitionsarithmetik, in jede selbstgestellte Falle. Gegenüber den Palästinensern von beleidigender Härte, gegenüber seinen Koalitionspartnern wankelmütig und nachgiebig, bestenfalls indifferent gegenüber den vertraglichen Pflichten Israels aus den Oslo-Vereinbarungen.

Mit der Öffnung des Tunnels am Tempelberg öffnete er zugleich die Büchse der Pandora. Der religiöse Eifer und Fanatismus, den jüdische und islamische Gläubige an den Tag legen, wenn es um ihre heiligen Stätten geht, hatte die Vorgängerregierung veranlaßt, den Durchbruch zu verschieben. Netanjahu handelte in Bulldozermanier. Arafat präsentierte ihm die Quittung.

Arafat zeichnet sein Gespür für die Gefühle und Leidenschaften der Palästinenser aus. Er weiß, wann das Maß voll ist. Er taktiert mit dem angestauten Groll auf seiten der Bevölkerung wie auf seiten der Sicherheitskräfte. Der hohe Blutzoll, den die Palästinenser in den vergangenen zwei Tagen leisteten, soll und wird der Welt beweisen, wie echt und stark die Verzweiflung auf palästinensischer Seite ist. Netanjahu ist der Taktik Arafats unterlegen. Aber auch Arafat geht ein hohes Risiko ein, wenn er seine Sicherheitskräfte in ziviler Kleidung mitschießen läßt. Das weckt nicht nur Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit, sondern auch an seiner tatsächlichen Kontrolle über seine Truppen. Zudem droht er sich damit einer möglichen Eskalationsstrategie der islamistischen Gruppen von Hamas oder Dschihad Islami auszuliefern.

Vorerst ist es jedoch die Politik des israelischen Regierungschefs, die die Palästinenser wieder zusammengeschweißt hat. Arafat wird diese neu gewonnene Einheit erst dann wieder aufs Spiel setzen, wenn Netanjahu und die israelische Regierung sich bereit erklären, die Vereinbarungen von Oslo umzusetzen. Und Arafat weiß Recht und Vertrag ebenso auf seiner Seite wie die internationale Unterstützung. Die gegenwärtige blutige Konfrontation in Palästina stellt Netanjahu vor die Entscheidung. Entweder er geht den Weg seiner Altvorderen und setzt sich mit Macht und Gewalt über bindende Verträge hinweg, oder er geht den Weg, den Jitzhak Rabin ihm gewiesen hat.

Arafat weiß, daß er die Eruption der Gewalt von seiner Seite aus nicht beliebig weitertreiben kann. Er wird abwarten in der Gewißheit, daß er alle politischen Kräfte der palästinensischen Gesellschaft jederzeit wieder mobilisieren kann. Diese Einheit wird solange halten, wie die Konfrontation mit dem israelischen Militär dauert. Sie wird wieder ausdifferenziert, wenn die israelische Regierung Lösungen für die Krise vorlegt.

Die klassische israelische Rechte bedarf heute eines Führers, der die Fähigkeit hat, mit der Politik der israelischen Likud-Pioniere zu brechen. Netanjahu ist noch nicht in der nahöstlichen Welt von heute angekommen. Netanjahu müßte, um die Lage zu entschärfen, zu Vertragstreue in der Frage des Abzugs aus Hebron und den Autonomiegebieten bereit sein, die palästinensischen Einwände gegen den Siedlungsbau wenigstens anhören und Arafat nicht als Erzterroristen, sondern als den Führer seines Volks respektieren. Dann wäre der Friedensprozeß noch zu retten.

Georg Baltissen