: Weniger Arbeit – mehr Arbeitsplätze
Um Jobs zu bekommen oder zu behalten, wird nicht nur im Osten, sondern auch im Westen bereits Lohnverzicht geübt. Der ÖTV-Kongreß ruft zur Arbeitsumverteilung auf ■ Aus Stuttgart Barbara Dribbusch
In Nordrhein-Westfalen hatte die ÖTV keine Wahl: Ein großer Teil des öffentlichen Nahverkehrs wurde schon von privaten Transportunternehmen erledigt, weitere Privatisierungen drohten. Die Gewerkschaft stimmte daher einer Vereinbarung zu, nach der neueingestellte Bus- und Bahnfahrer brutto 500 Mark weniger verdienen als ihre Kollegen. „Als Gegenleistung darf es keine weiteren Privatisierungen geben“, erklärt der ÖTV-Bezirkschef von NRW, Klaus Orth. Die ÖTV muß neue Kompromisse schließen im Kampf gegen den Jobabbau. Das war auch auf dem ÖTV-Gewerkschaftstag in Stuttgart zu spüren.
Als dort die Empörung über das neue Gesetz zur gekürzten Lohnfortzahlung fürs erste verklungen war, kam ÖTV-Chef Herbert Mai am Mittwoch zu Grundsätzlichem. „Beschäftigungssicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze“ müßten „in das Zentrum der politischen Argumentation gerückt werden“, forderte er in seinem Grundsatzreferat vor rund 600 Delegierten. Es drohe eine „Spaltung der Arbeitnehmerschaft“, in „Globalisierungsgewinner“ mit sicheren Jobs, jene mit unsicheren Arbeitsplätzen, und solchen, „die als Arbeitslose und Arme abgespalten werden“.
„Was wir brauchen, ist eine gesellschaftliche Unterstützung für eine Politik der Arbeitsumverteilung“, sagte Mai. Er wisse, daß diese Frage „in unseren Reihen kontrovers“ diskutiert werde. „Kontrovers aufgrund der sinkenden Nettoeinkommen, aufgrund des Wissens, daß Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich nicht mehr zu realisieren sind“.
Die Delegierten verabschiedeten gestern einen Antrag, nach dem „Tarifpolitik mehr als in der Vergangenheit beschäftigungsfördernde und beschäftigungssichernde Aspekte berücksichtigen“ solle. „Spätestens 1997 muß die Verkürzung der Arbeitszeit mit dem Ziel der 35-Stunden-Woche Schwerpunkt des tarifpolitischen Handelns der Gewerkschaft ÖTV werden“. Und Lohnpolitik dürfe nicht durch die sich ausweitende Tarifflucht (Verbandsaustritt, Ausgründungen, Privatisierungen) wirkungslos bleiben.
Wo Jobabbau und damit Mitgliederverlust drohen, muß die ÖTV nach neuen Wegen suchen. Im Westen ist die Tarifflucht besonders im öffentlichen Nahverkehr ein Problem, denn dort wird zunehmend privatisiert. Deshalb war auch das Bündnis im öffentlichen Nahverkehr in Nordrhein- Westfalen möglich. „Selbst mit den abgesenkten Einstiegslöhnen stehen sich die Fahrer noch besser, als wenn sie bei einem Privatunternehmen angestellt wären“, schildert ÖTV-Bezirkschef Klaus Orth. „Da liegen die Löhne um 25 Prozent niedriger.“ In Bremen bekommen neueingestellte Straßenbahner seit kurzem sechs Prozent weniger Lohn als ihre Kollegen. Trotzdem bewarben sich um die 100 ausgeschriebenen Stellen 1.700 Jobsuchende.
Wer vor Ort jetzt auch im Westen die Angst um den Job miterlebt, hatte wenig Verständnis für die Ost-Delegierten, die auf dem Gewerkschaftstag den für sie ungünstigen Tarifabschluß von 1996 beklagten. Im Osten gibt es im öffentlichen Dienst derzeit 85 Prozent vom West-Gehalt. Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit müsse durchgesetzt werden“, meinte der Brandenburger ÖTV-Bezirkschef Werner Ruhnke, verzichtete aber auf einen Antrag für ein Vetorecht der Ost- ÖTVlern bei künftigen Tarifabschlüssen. Er hätte keine Chance gehabt.
Im Osten wird Teilzeitarbeit ohne vollen Lohnausgleich im öffentlichen Dienst schon längst praktiziert. „Wir sind das Experimentierfeld für Beschäftigungssicherung, wie sie auch im Westen kommen wird“, glaubt Inke Franken, Erzieherin und ÖTV-Delegierte aus Jena. In den Kitas der Stadt mußten die Erzieherinnen Arbeitszeit und Einkommen verringern, um ihre Jobs zu retten. Auch die Arbeiter auf städtischen Bauhöfen in Kahla und Hermsdorf machten von der tariflichen Öffnungsklausel für den Osten Gebrauch, nach der Arbeitszeit und Einkommen verringert werden können, um damit Jobs zu sichern.
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