: „Chance für betriebliche Tarifverträge“
■ Der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai zu Lohnfortzahlung und Arbeitsumverteilung. „Was im Osten an Arbeitszeitverkürzung gemacht wird, könnte ein Modell für den Westen sein“
taz: Die Protestaktionen der Belegschaften gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung scheinen bei den Arbeitgebern Eindruck zu machen. Wieviel politische Macht haben die Gewerkschaften in diesem Kampf?
Herbert Mai: Ich sehe uns da auf einer sehr starken Seite. Wir haben den Kampf um das Gesetz zwar verloren, eine parlamentarische Mehrheit haben wir ja nicht. Aber die Stimmung in den Betrieben und Verwaltungen ist massiv gegen diese Regelung. Die bisherigen Aktionen werden so deutlich unterstützt, daß ich sicher bin, die Kollegen und Kolleginnen sind auch bereit, da noch mehr zu machen.
Haben die Arbeitgeber die Symbolkraft des Themas unterschätzt?
Die Kürzung der Lohnfortzahlung ist ein Symbol für die Weichenstellung künftiger Politik der Arbeitgeber, flankiert durch die Bundesregierung. Die haben sich nicht umsonst jetzt die großen Betriebe wie Daimler oder Opel ausgesucht, um die Kürzung der Lohnfortzahlung mit Rechtsbruch durchzusetzen.
Im öffentlichen Dienst herrscht noch Ruhe. Innenminister Kanther hat bisher nicht signalisiert, daß er den Manteltarifvertrag zur Lohnfortzahlung kündigen will. Scheut er den Konflikt?
Kanther braucht Einigkeit unter den Arbeitgebern im öffentlichen Dienst, also mit Ländern und Kommunen, um den Manteltarifvertrag zu kündigen. Diese Einigkeit ist nicht ohne weiteres herstellbar. Außerdem wirkt nach einer Kündigung der Tarifvertrag nach bis zu einem neuen Verhandlungsergebnis. Der Innenminister weiß, daß wir das neue Gesetz im Tarifvertrag nicht übernehmen werden.
Wenn die volle Entgeltfortzahlung im öffentlichen Dienst erst mal bleibt, in anderen Branchen aber verschwindet, könnte der Vorwurf kommen, der öffentliche Dienst behielte mal wieder eine Sonderstellung.
Eine sinnvolle soziale Ausgestaltung ist keine Sonderstellung. Diejenigen, die dann 80 Prozent haben, sind sozial benachteiligt. Ich bin sicher, daß wir 1998 eine andere Mehrheit in Bonn haben. Dann wird die gesetzliche Kürzung der Lohnfortzahlung rückgängig gemacht.
Sie haben betont, es gebe keine Alternative zur Fortentwicklung der EU. Im Jahre 2000 haben wir die Währungsunion. Gilt dann in Deutschland noch die volle Lohnfortzahlung?
Ich hoffe es!
Regierungspolitiker behaupten immer, Deutschland habe eine Sonderstellung in Sachen Lohnfortzahlung...
Was so nicht stimmt. In Österreich gibt es auch 100 Prozent Entgelt für Kranke. Solche Sozialvergleiche in Europa sind außerdem schwierig, weil man nicht nur einen Punkt vergleichen kann.
Trotzdem: Wie sieht es aus mit der sozialen Sicherung in der künftigen EU?
Einmal müssen wir die Gewerkschaften organisatorisch stärken, damit sie auf europäischer Ebene noch handlungsfähiger werden. Da sind wir gerade dabei. Das zweite ist, daß in Maastricht II die erweiterte Sozialcharta kommt, die Minimalstandards für Arbeits- und Sozialbedingungen regelt, die dann europaweit gelten.
Kann Deutschland dann den Sozialstandard halten?
In den Ländern wird es sehr unterschiedliche Anpassungen geben. Ich fürchte, daß das Niveau, das wir haben, insgesamt nicht gehalten werden kann.
Sie haben in ihrem Grundsatzreferat zu Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung aufgerufen. Wie soll das gehen?
Die 35-Stunden-Woche bleibt das Ziel. Und mir ist klar, daß wir die bisherige Linie, den vollen Lohnausgleich, nur schwer umsetzen können.
Wie könnte Arbeitsumverteilung konkreter aussehen?
Das, was im Osten schon gemacht wird, die tariflich vereinbarte Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich und Beschäftigungssicherung, das könnte auch ein Modell für den Westen sein. Ich sehe in solchen Öffnungsklauseln eine Chance für betriebliche Tarifverträge, die es zu nutzen gilt. Interview: Barbara Dribbusch
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