Wer darf leben? Wer muß sterben?

■ Bremer Sozialwissenschaftler Volker Schmidt untersucht die „Politik der Organverteilung“

Wer bekommt die Chance, mit einer neuen Niere oder Leber ein neues Leben anzufangen? Nach welchen Kriterien werden knappe Spenderorgane verteilt? Wer wählt die Empfänger aus? Mit seinem Dissertationsthema „Die Politik der Organverteilung“ hat sich der Bremer Sozialwissenschaftler Volker Schmidt weit in ein Terrain hereingewagt, das die Öffentlichkeit den Ärzten reservieren möchte.

Auch der Politik ist das Thema zu heiß: In den Entwürfen für das Transplantationsgesetz, die in dieser Woche im Bundestag mit Schmidt als Gutachter erörtert werden, zeigen sich Politiker aller Parteien überzeugt, Organe würden primär nach medizinischen Kriterien quasi objektiv vergeben. „Das ist Unfug“, sagt Schmidt nach langen Interviews mit 30 Transplantationsmedizinern.

Schmidt will eine Debatte über die ethischen Kriterien der Verteilung von knappen Gütern in der Medizin anstoßen. Aber dann käme unweigerlich der Begriff „Selektion“ in die Öffentlichkeit. „Davor hat man in Deutschland natürlich eine Heidenangst“.

In der Theorie sollte der Computer das Dilemma lösen: Die Rechner der europäischen Datenbank „eurotransplant“ in Holland sollen verläßlich für jedes gespendete Organ den nach sechs medizinischen Kriterien günstigsten Empfänger mit dem kleinsten Risiko einer Abwehrreaktion heraussuchen.

Laut Schmidt wird aber nur jede zweite der insgesamt 2.000 in Deutschland jährlich gespendeten Nieren an „eurotransplant“ gemeldet. Der Rest wird vor Ort in den Transplantationszentren vergeben – mit einem weitgehenden Einfluß der diensthabenden Ärzte. Hierbei, so zeigten sich aufgeschlossenere Mediziner im Gespräch mit Schmidt überzeugt, würden auch Kriterien angewandt, die mit Medizin nichts zu tun haben. Soll ein Schwerkrimineller eine Niere erhalten oder lieber die junge Mutter ein Zimmer weiter? Soll ein Trinker seine zersoffene Leber ersetzt kriegen? Lohnt sich bei einer 80jährigen der Eingriff? Frage sei auch, wer die „Schrottorgane“ von sehr alten Spendern bekomme, wer die jungen frischen? Es geht auch um Geld: Die Zentren verdienen an Transplantationen viel mehr als sie für abgegebene Organe bekommen.

Und wer kommt überhaupt auf die Warteliste? Nach rein medizinischer Sicht, bei der es nur um das Wohl der Kranken geht, müßten die meisten der 30.000 deutschen Dialysepatienten ein Transplantationsorgan bekommen. Tatsächlich stehen nur 8.000 auf den Wartelisten. 9.000 Leberkranke wären für eine Transplantation geeignet. In der „eurotransplant“-Datei finden sich höchstens 700. Schon diese „Indikationsstellung“ beinhalte eine Vorauswahl, die nicht nur nach medizinischen Kriterien erfolge, sagt Schmidt.

Gerade jüngeren Ärzten sei die Problematik bewußt, hat Schmidt beobachtet. Bei den „reflektierten Leuten“ sei er darum mit seiner Forschungsarbeit wohlgelitten, die Deutsche Transplantationsgesellschaft habe ihn zu ihrer Jahresversammlung eingeladen. Patienten wollten dagegen an die Macht der objektiven Medizin glauben: Ihnen nimmt der Computer die quälende Frage ab: Warum darf ich leben und nicht mein Nachbar? Patientenvertreter fürchten die Diskussion, weil dadurch die Bereitschaft der Menschen zur Organspende weiter abnehmen könnte. jof

Für Schmidt kommt die Gesellschaft an der Diskussion um die Gerechtigkeit bei der Verteilung knapper Güter wie Spenderorganen nicht herum. Selbst bei einer besseren Erfassung der verfügbaren Organe, wie sie eurotransplant mit einem neuen Computersystem versucht, bleibt nach Auffassung Schmidts das Dilemma. Denn medizinisch folgt das eurotransplant-Modell der Prämisse, Organe nach einer möglichst genauen Übereinstimmung der Gewebemerkmale zu verteiln. Auch hierzu gebe es in der medizinischen Diskussion durchaus unterschiedliche Meinungen. Zweite Prämisse sei die „Maximierung der Organlaufzeiten“, die sich aus der moralphilosophischen Schule des Utilitarismus herleite. Andere Leitwerte wie Gerechtigkeit oder Fairneß, die eine Verteilung nach der Dauer der Wartezeit nahelegten, würden ausgeblendet.

Auch eine Zunahme der Organspenden würde die von Schmidt gewünschte schwierige Debatte nicht verhindern. Er nennt es eine „plausible Spekulation“: Wenn mehr Organe verteilt werden könnten, würden auch mehr Patienten für transplantationsfähig erklärt.“ Die Knappheit bliebe. jof