■ Vom Eigenleben der Gerätschaften und Gegenstände
: Die Grundgesetze des Alltags

Kennen Sie das auch? Es ist wie verhext.

Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man den Kühlschrank öffnet – er ist immer randvoll. Jedoch vor allem dann, wenn man nach dem Einkauf die Joghurtbecher Haselnuß und Erdbeer und die sperrige Tiefkühlpizza Salami darin plazieren will. Warum aber steht eigentlich immer das Glas Gewürzgurken (Haltbarkeitsdatum Januar 1998) ganz vorne in der ersten Reihe? Und den Rückweg ins Kühlschrankinnere versperrt seit Tagen eine Schale mit gekochtem Reis (Haltbarkeitsdatum Mittwoch).

Sind Küchenmöbel nun herstellermäßig zu klein dimensioniert oder Einkäufe grundsätzlich zu üppig? Auf jeden Fall greift das erste Grundgesetz des Alltags: In Kühlschränken Gelagertes breitet sich aus! Das zweite Grundgesetz steht naturgemäß in engem Zusammenhang mit dem ersten: In Kühlschränken Gelagertes kann stets noch gestaucht – besser: umgelagert – werden. Allerdings erfordert das eine ruhige Hand und konzentriertes Nachdenken.

Staubsaugern hingegen ist mit Nachdenken kaum beizukommen. Die bringen ihre Benutzer schamlos in Rage und amüsieren sich noch darüber. Trotz devot gebückter Büßerhaltung beim Sauggang durch die Wohnung bleiben sie an jeder Türkante und jedem zweiten Möbelbein hängen. Höhepunkt der Dreistigkeit: Für die letzten zehn Zentimeter unter dem Sofa reicht die Schnur garantiert nicht mehr aus. Es gilt nämlich das dritte Grundgesetz des Alltags: Staubsauger erpressen willkürlich Aufmerksamkeit durch Steckdosenwechsel. Über ihre grundsätzlich verhedderten Kabel lohnt das Klagen nicht. Es gibt keine Mauer, die groß genug dafür wäre.

Was die Staubsauger zuviel haben, ist bei leeren Shampoo-Flaschen unterentwickelt. Die melden sich einfach nicht mehr nach der letzten Kopfwäsche, sondern fristen ihr leeres und sinnloses Dasein wochenlang auf der Ablage im Bad. Trotz bester Vorsätze, sie endlich zu entsorgen, verharren sie komischerweise am nächsten Morgen immer noch am selben Platz und sagen keinen Piep. Wer denkt mit Kaffeeduft in der Nase auch schon gerne an Schuppen? Das vierte Grundgesetz des Alltags lautet daher wie folgt: Shampoo- Flaschen haben magische Steherqualitäten.

Ganz im Gegensatz zu flexiblen Gegenständen in Ablageschränken. Es ist unglaublich. Der letzte Sicherungsgriff zur Stabilisierung des Handtuchstapels, damit beim nächsten Öffnen der Schranktür keines herausfällt, bringt garantiert – ganz im Gegensatz zur Intention – die labile Statik des Haufens ins Wanken. Das gleiche gilt, statistisch bewiesen, für Plastiktütenansammlungen in Küchenschubladen. Ein sanfter Druck, damit beim Schließen der Schublade kein Zipfel herausschaut – prompt reckt sich die ganze Belegschaft, um den letzten Sonnenstrahl des Tages – ach was, des Lebens! – zu ergattern. Bis Sie die wieder zusammengestaucht haben, wissen Sie schon längst nicht mehr, wofür Sie die herausgenommene Gabel eigentlich brauchen. Die Lebensmittel im Kühlschrank breiten sich derweil bis zur Eierablage in der Tür aus – und begrüßen in kollegialer Solidarität das fünfte Grundgesetz des Alltags: Handtücher und Plastiktüten verweigern die Sippenhaft.

Mit einem ähnlichen Freiheitsdrang muß zu tun haben, was sich unschwer überall dort beobachten läßt, wo sich Menschen begegnen. Es ist offenkundig, daß bestimmte Teile von Kleidungsstücken stärker ans Licht drängen als andere. Wie sonst ist das sechste Grundgesetz des Alltags zu erklären, das da lautet: Der rechte Ärmel ist immer der längere.

Schauen Sie doch einmal genau nach! Dann kommen Sie auch ins Grübeln, warum ausgerechnet der rechte Hemds- oder Pulloverärmel aus dem Jackett herauslugt, stets mehr als der linke. Und selbst nach energischem Rumgezurre bleibt er in Stellung und bewahrt Haltung. Den Gesetzen des Alltags kann man eben nicht widerstehen.

Sollten Sie jetzt allerdings den (nachvollziehbaren) Eindruck gewonnen haben, auch in Ihrem Alltag lasse sich alles mit diesen Grundgesetzen vorhersagen, so stellt das siebente alles wieder in Frage, denn es lautet: Es kommt immer anders, als man denkt.

Ein beliebiges Beispiel: Sie parken vor Ihrer Haustür kurz auf dem Gehweg, weil Sie nur ganz schnell etwas aus der Wohnung holen wollen. Dort klingelt das Telefon, während des Gesprächs fällt Ihnen siedendheiß ein, daß Sie ja noch den Videorekorder programmieren wollten. Und eigentlich wollten Sie ja auch noch... Dummerweise hören Sie durch diese Kettenreaktion spontaner Aktivitäten nicht, wie Ihr Auto abgeschleppt wird. Sie denken erst wieder daran, als Ihnen am Abend beim Öffnen des Kühlschranks der Butterteller entgegenfällt. Natürlich mit der „gesetzmäßigen“ Seite nach unten... In diesem Moment nützt Ihnen die Erkenntnis überhaupt nichts, daß Ihr rechter Hemdsärmel stets ein paar Zentimeter mehr aus dem Jackett ragt als Ihr linker. Hartwig Hansen