piwik no script img

TrittbrettfahrerInnen unerwünscht

Über eine existenzsichernde Altersrente für Frauen denken Regierung und Versicherungen erst gar nicht nach. Die Loser des Arbeitsmarkts sollen den Versicherten vom Leib gehalten werden  ■ Von Ulrike Baureithel

Rentnerinnen, die mit Fäustlingen in ihrer ungeheizten Bude hocken, verschämt in Abfallkörben wühlen oder sich in abgeschabten Mänteln durch warme Kaufhallen drücken: Armut ist alt und weiblich. Das galt viele Jahre als Allgemeinplatz. So griffig die Formel auch sein mag, sowenig trifft sie die deutsche Armutsphysiognomie der neunziger Jahre. Schon der flüchtige Blick in Sozialhilfestatistiken zeigt, daß der Anteil der über 65jährigen SozialhilfeempfängerInnen erheblich zurückging, nicht zuletzt weil sich die jüngeren Rentnerinnen durch Erwerbsarbeit vergleichsweise höhere Rentenanwartschaften erwarben.

Bezogen 1969 noch 27,2 Prozent SeniorInnen laufende Hilfen zum Lebensunterhalt, waren es 1993 nur noch 7,4 Prozent, wobei die geschlechtsspezifische Verteilung – ein Viertel Männer, drei Viertel Frauen – konstant blieb. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) galten 1993 11,3 Prozent der Bevölkerung als „einkommensarm“, das heißt, ihr Monatseinkommen lag unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Daß die Armut heutzutage ein junges Gesicht hat, offenbaren Erhebungen in Berlin: 1995 war hier knapp die Hälfte aller SozialhilfeempfängerInnen jünger als 25 Jahre.

Interpretiert man derartige Daten oberflächlich, bekäme die Altersversorgung ein gutes Zeugnis: Die drei Säulen der Altersabsicherung – Pflichtversicherung sowie betriebliche und private Zusatzversorgung – garantieren einem immer höheren Anteil alter Menschen eine Rente, die sie vor dem Gang aufs Sozialamt bewahrt. Doch einmal davon abgesehen, daß auch die Scham heutzutage arm und weiblich ist und vor allem ältere Frauen auf die „Sozialbrosamen“ verzichten läßt, gibt es kaum Grund zu Euphorie. Denn schon jetzt läßt sich prognostizieren, daß „junge“ Armut sich perpetuiert. Lange Ausbildungszeiten, unterbrochene Erwerbsbiographien und, immer noch, Kindererziehung und häusliche Pflege schmelzen das individuelle Rentenkonto so weit ab, daß im Jahre 2020 die Formel wieder stimmen könnte: Armut ist alt und weiblich.

Das erklärte „Planziel“ der Rentenversicherungsträger, ihrer Versicherungsgemeinschaft auch in Zukunft eine existenzsichernde Rente oder zumindest einen angemessenen Ausgleich für ihre Beitragsleistungen zu garantieren, wird von versicherungsfremden Einflüssen unterminiert: steigende Arbeitslosigkeit, erzwungene oder freiwillige Flucht in die Selbständigkeit, Teilzeitarbeit und nicht zuletzt die demographische Entwicklung. So kann es passieren, daß selbst der sozialpolitische Fels der Rentenformel ins Wanken gerät; das heißt die individuell erarbeiteten Rentenanwartschaften multipliziert mit einem jährlich angepaßten objektiven Rentenwert.

Zum Beispiel durch die Teilzeitarbeit, die von 19 Prozent 1980 auf derzeit 27 Prozent gestiegen ist. In Anspruch nehmen sie bekanntlich fast ausschließlich Frauen: Mittlerweile arbeiten bereits mehr als ein Drittel aller weiblichen Erwerbstätigen (36,6 Prozent, 1986 in Westdeutschland 29,4 Prozent) Teilzeit. Noch schlägt sich dieses Risiko fast ausschließlich individuell nieder: Unterstellt man 2.100 Mark Monatsrente eines Durchschnittsverdieners mit 45 Versicherungsjahren, so mindert sich die Rente einer Frau, die 15 Jahre eine Teilzeitbeschäftigung ausübte, bereits um 350 Mark. Unterstellt man weiterhin, daß Frauen nur 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes erreichen, dann kommt beispielsweise eine Rentnerin mit 10 vollen und 15 „halben“ Versicherungsjahren (also Teilzeitarbeitsjahren) auf gerade mal 863 Mark Monatsrente und wird beim Sozialamt anklopfen müssen. Generell, so die rententechnische Formel, muß jedes Teilzeitjahr mit ungefähr 23 Mark Rentenminderung bezahlt werden.

Denkbar sind jedoch auch weiterreichende Auswirkungen, wenn der Trend zur Teilzeitarbeit im Vergleich zur Volzeitbeschäftigung steigt. Teilzeitarbeit in hohem Umfang, so die ExpertInnen, führe zu sinkenden Durchschnittseinkommen, womit dann auch der aktuelle Rentenwert fällt. Hält der Trend lange genug an, sinken die Renten aller Anspruchsberechtigten, also auch die der ehemals Vollzeitbeschäftigten. Die Diskussion über eine neue gesamtgesellschaftliche Arbeitsverteilung wird derartige Folgen auf die Altersversorgung berücksichtigen müssen.

Von daher wird auch die Reserviertheit der Rentenversicherungsträger gegenüber der Forderung verständlich, die 590-Mark- Jobs in das Alterssicherungssystem aufzunehmen. Karen Gebhardt, Referentin für Entwicklungsfragen der sozialen Sicherheit bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), weist nachdrücklich auf die Nachteile für die gesetzlichen Rentenkassen hin: Zwar bekämen sie aus jedem 590- Mark-Job etwa 113 Mark zu, doch die geringfügig Beschäftigten profitierten überproportional an den „Umverteilungselementen“ (zum Beispiel Reha-Maßnahmen).

Die subtile Botschaft, man möge „der Versicherungsgemeinschaft“ die Loser vom Leib halten, war auf dem zweiten offiziellen „Frauenseminar der Frauenpresse“, das die BfA Anfang Oktober in Berlin abhielt, auch von deren Direktorin Anne Meurer zu vernehmen. Sie sprach sich zwar dafür aus, zusätzliche Nebenbeschäftigungen bei der Beitragszahlung zu berücksichtigen, doch eine Versicherungspflicht der geringfügig Beschäftigten konnte sie sich nur als „Versicherung 2. Klasse“ vorstellen. Eine „unheilige“ Koalition mit den Arbeitgebern zeichnet sich allerdings auch auf der Seite der Betroffenen ab: Wer von 590 Mark monatlich 240 Mark an die Sozialversicherung abführen muß, um, im Extremfall, nach 45 Versicherungsjahren eine Rente von 291 Mark zu kassieren, wird sich möglicherweise lieber auf dem Schwarzarbeitsmarkt verdingen. Insbesondere für verheiratete Frauen, die über ihren Ehemann versichert sind, ist die Selbstversicherung auf diesem Niveau wenig attraktiv.

Auch für Mütter und häusliche Pflegeleistende sind die Zukunftsaussichten alles andere als rosig, obwohl sie nach Rentenreform und Pflegeversicherung in die gesetzliche Versicherung aufgenommen wurden. Zwar läßt sich deren Besserstellung – einerseits durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten (siehe Kasten), andererseits durch die Leistungen der Pflegekassen – nicht leugnen, von einer „Gleichstellung“ mit Vollzeiterwerbstätigen kann jedoch kaum die Rede sein, selbst wenn Renate Bosien (BfA) solches behauptet. Leistet eine Frau beispielsweise 28 Stunden wöchentlich Schwerstpflege, erwirbt sie sich eine Rentenanwartschaft von 35 Mark; sollte sie das 15 Jahre durchhalten, kann sie im Alter auf 500 Mark Rente hoffen. Das ist zwar besser als gar nichts, jedoch nicht annähernd „existenzsichernd“ und wirkt, gemessen an einer Normalarbeitsbiographie, erheblich rentenmindernd. Ähnliches gilt auch für die durch das BVG-Urteil vom Juni 1996 wieder vielfach diskutierte Anrechnung der Kindererziehungszeiten (siehe Kasten).

Nun können die Rentenversicherungsträger nicht die Aufgaben der Politik lösen und jene familienpolitischen Kompensationen leisten, die von der Gesamtgesellschaft nicht erbracht werden wollen. „Emanzipation“ allerdings im Munde zu führen, wo es um die Erhöhung des Rentenalters für Frauen geht, und gleichzeitig den Ausgleich für deren Familienarbeit als „versicherungsfremde Leistung“ aus dem Katalog aussondern und an „die Allgemeinheit“ delegieren zu wollen, ist Heuchelei. Oder eben Folge einer ökonomischen Situation, in der sich Lobbyisten der Interessen ihrer ursprünglichen Klientel erinnern, im Falle der Rentenversicherer der „Normalarbeitsbevölkerung“: „Beitragsnegative TrittbrettfahrerInnen“, so der Tenor, sind unerwünscht. Als sie jedoch nach innovativen Modellen einer existenzsichernden Altersrente für Frauen gefragt wurde – und diese standen noch im Mittelpunkt des ersten Frauenseminars der BfA im letzten Jahr –, mußte Anne Meurer passen. In der Frauenrentenkommission von Tarifparteien, Regierung und Rentenversicherungsträgern, gab sie lakonisch Auskunft, „ruht still der See“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen