Kurt Scheels Lichtspiele: Alte Zensuraufweicherin!
■ Und hier die Fortsetzung: Zur bedenklichen Funktion der Filmmusik, Teil II
Man sollte die Musik nicht unterschätzen. Da sitzt man beispielsweise im „Paten“, schwarze Leinwand, und es erklingen die ersten acht Takte des „Godfather Waltz“: eine einsame Trompete, die langsam und wehmütig, so wehmütig, ihre traurige Frage stellt, sie noch einmmal wiederholt und dann unbeantwortet verschweben läßt – und unsere kritischen Vorbehalte dem organisierten Verbrechen gegenüber, befürchte ich, sind schon eingelullt, bevor der Film überhaupt begonnen hat.
Mit ihrer Macht hat die Musik das getan, was schon Frieda Teller 1917 bemerkte, daß nämlich „die Musik im erwachsenen Zuhörer ,die Zensur aufweicht‘“. Weil der Raum des Hörens ja der früheste psychische Raum ist: „Schon vor der Geburt leben wir in einer akustischen Umgebung, bestehend aus dem Herzschlag, Verdauungsgeräuschen und der Stimme der Mutter“; nachzulesen bei Didier Anzieu und Guy Rosolata. Und deshalb vermag Musik eben „leichte Regression auszulösen, die den Zuhörer in das lustvolle Reich frühkindlicher Phantasien entführt“. So steht es jedenfalls in einem Aufsatz von Claudia Gorbman, der die Zeitschrift Wespennest mit dem Thema Filmmusik ziert. „Musikgenuß kann ganz allgemein auf frühe Halluzinationen einer körperlichen Verschmelzung mit der Mutter beziehungsweise des vor der ödipalen Sprach- und Verbotskrise erlebten Einsseins mit ihr zurückgeführt werden.“ Das klingt zwar etwas schnodderanalytisch, kommt mir aber insofern doch sehr zupaß, als damit meine fixe Idee, beim emphatischen Kinogeher handele es sich um den infantil-regressiven Typus, bestärkt wird. Identifikation ist nicht alles, aber ohne Identifikation ist im Kino alles nichts, und deshalb ist Musik so wichtig, weil die unser „Ich mit dem Körper des Films verschmelzen läßt“.
Das gilt natürlich nicht für die aufgeklärten und kritischen Freunde des guten Films. Wir durchschauen ja die Tricks und Machenschaften, mit denen zynische Regisseure und machthungrige Komponisten uns zu betäuben und in eine Welt des angeblich „schönen Scheins“ (Eskapismus!) zu entführen trachten. Allenfalls großen Meistern wie Nino Rota, der neben der Musik zum „Paten“ diese unglaublich schönen, sehnsüchtigen Melodien für Fellini erfunden hat, für „La Strada“ und „Il Bidone“ und „Cabiria“ – allenfalls Rota, Tiomkin, Rozsa und einigen anderen gelingt es manchmal, uns mit ihrer Filmmusik zu bezaubern, zu betäuben und frühkindlich-regressiv zu verschmelzen, mit wem auch immer (Brando als Mamaersatz?).
Dann wäre es aber nicht verwunderlich, wenn sogar kritische Menschen wie Sie und ich im Kino primärprozeßhaft überflutet würden und sich diesem Zustand hingeben könnten, wenn wir dort lachten, weinten, sängen (letztere beiden sollten lautlos vor sich gehen) und außer uns, nämlich auf die Leinwand, gerieten: in den Körper von Jimmy Stewart oder Kate Hepburn, in die Bilder von Monument Valley oder New York, in die Musik von Gershwin oder Korngold. Ist ja nur für neunzig Minuten!
Wenn wir den Kinosaal verlassen, setzen wir wieder unser durchblickerisches Erwachsenengesicht auf und äußern uns ironisch darüber, daß jetzt sogar Woody Allen auf seine alten Tage weich geworden sei und um ein Happy-End („verlogen!“) offenbar nicht herumkomme. Und dann summen wir „Smile, and the world will smile with you“, aber nicht einverständig, sondern kritisch. Kurt Scheel
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