: Ein Präsident mit Neigung zum Primitiven
■ Frankreichs Staatschef Jacques Chirac macht aus einem Hobby eine Staatsaffäre: Er läßt der „primitiven“ Kunst im Pariser Trocadéro-Palais ein Museum einrichten
Jedem französischen Präsidenten sein Museum: Georges Pompidou hinterließ „Beaubourg“, Valéry Giscard d'Estaing das Musée d'Orsay, François Mitterrand setzte eine Glaspyramide in den Innenhof des Louvre. Jetzt hat auch ihr Nachfolger sein großes Projekt vorgestellt: Jacques Chirac will sich mit Hilfe eines Museums der Zivilisationen und der ursprünglichen Kunst verewigen.
Seine Neigung zu den damals noch „primitif“ genannten Kulturen und Künsten hat Chirac schon als Bürgermeister von Paris gepflegt. Er hat selbst Fernöstliches und Lateinamerikanisches gesammelt. Seine Vertrauten wußten, daß Chirac als Präsident eine nationale Angelegenheit aus seiner Leidenschaft machen würde.
„Die primitive Kunst soll in der Hauptstadt geehrt werden, wie sie es verdient“, schrieb der frisch gewählte Präsident seinem Kulturminister, kaum war er im vergangenen Jahr in den Elysee-Palast eingezogen. Bereits Monate zuvor hatte er Freunde aus dem Kunstgeschäft, unter Vorsitz von Kunsthändler Jacques Kerchache, beauftragt, ein Museumsprojekt zu entwickeln. In dieser Woche stimmten der Präsident und sämtliche zuständigen Minister – Kultur, Erziehung, Finanzen, Verteidigung – ihren Empfehlungen zu: Das Musée des civilisations et arts premiers für rund eine Milliarde Franc (zirka 300 Millionen Mark) ist damit beschlossene Sache.
Es soll zeigen, was Frankreich an „primitiver“ Kunst zu bieten hat. Gegenwärtig sind das 250.000 Stücke, die sich im Besitz des im Jahr 1938 eingerichteten anthropologischen Musée de l'Homme befinden, sowie die 24.000 Objekte aus dem Bestand des Musée des arts d'Afrique et d'Océanie. Diese Gegenstände – darunter Masken, Textilien, Waffen und Werkzeuge – sind ein Erbe des Kolonialismus. Zusätzlich sind jetzt 150 Millionen Franc für Neuanschaffungen vorgesehen. Das neue Museum soll bis 2002 – das letzte Jahr von Chiracs erster Amtsperiode – in einem Seitenflügel des Trocadéro-Palais entstehen.
Fünf Jahre sind für die Aus- und Umbauten des monumentalen Gebäudes aus dem späten 19. Jahrhundert vorgesehen, in dem gegenwärtig das Musée de l'Homme und das Marinemuseum untergebracht sind. Auch der Louvre ist in das Projekt einbezogen. Gegen den Widerstand seines Direktors soll im Hause ein Saal mit primitiven „Meisterwerken“ eingerichtet werden.
Das Projekt ist eine Weltpremiere. Abgesehen von punktuellen Ausstellungen, die „primitive Kunst“ zusammen mit von ihr inspirierten okzidentalen Kunstwerken zeigten – vor allem kubistische und surrealistische Werke – ist bislang die Trennung zwischen Ethnologie und „reiner Kunst“ durchgängig. Die Konkurrenz der Vertreter beider Disziplinen bestimmt denn auch die Debatte über das neue Museum in Paris.
Die Ethnologen des Musée de l'Homme, das in dem neuen Museum aufgehen soll, setzen ihre Exponate in den Zusammenhang von Gesellschaften, Kulturen und Riten. Sie verstehen ihre Objekte als „nützlich“, das rein ästhetische Prinzip, das dem Chiracschen Museumsprojekt zugrunde liegt, lehnen sie ab. Das Schöne als Kategorie existiert in ihrer Disziplin nicht. Um ihr leicht angestaubtes anthropologisches Museum zu retten, sammelten die Forscher – darunter hochkarätige Spezialisten für Inuit und Wüstenvölker – Tausende von Unterschriften.
Immerhin erreichten die Proteste, daß das neue Museum entgegen dem ursprünglichen Konzept Forschungslabors und Bibliotheken für Anthropologen, Ethnologen und Prähistoriker hat. Eine Modifizierung des Kunstbegriffs freilich wird es nicht geben. Chiracs Vertrauter, der Kunsthändler Kerchache, dem Absichten auf das Amt des Direktors des neuen Museums unterstellt werden, besteht darauf, daß „Meisterwerke“ universell verständlich seien, unabhängig von ihrem Entstehungskontext.
Ein Opfer des neuen Museums ist die Marine. Ihr mit Schiffsnachbauten und Schlachtenbildern vollgestopftes Musée de la Marine muß das Trocadéro-Palais verlassen, um Platz zu schaffen. Zähneknirschend fügt sich die Marine diesem Schicksal. Wenn der Präsident und oberste Befehlshaber das große Kulturprojekt seiner Amtsperiode ankündigt, ist Widerstand zwecklos.
Dorothea Hahn
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