: Geister in Bahnen
■ Grusel? Leander Haußmann inszenierte "Misery" nach Stephen King in Bochum
Da hackt die Frau ihm doch echt den Unterschenkel ab... Nicht ganz echt, wir sind ja im Theater. Aber ein echter Stephen King. Und das im Schauspielhaus. Intendant Leander Haußmann geht aufs Ganze in seiner zweiten Spielzeit. Seine erste eigene Inszenierung ist diesmal ein echter B-Film-Schocker. Um 22 Uhr beginnt der Mitternachtsthriller. Demnächst also: das Double-Feature im Schauspielhaus. Zuerst was echt Hochkulturiges, Schiller, Lorca oder so, und danach noch was echt Fetziges. Echt super.
Ganz echt ist der Stephen King allerdings auch nicht. Es ist eine Bühnenbearbeitung von Simon Moore. Und die unterschlägt die schönsten Details des Originals: die Geburtstagstorte mit dem abgehackten Daumen als Kerzenersatz darin, den mit dem angespitzten Holzkreuz erdolchten Polizisten, der dann noch mal mit dem Rasenmäher überrollt wird – fehlt alles, nur eine popelige Amputation mit der Axt bleibt drin.
Stephen Kings Roman „Misery“ (deutscher Titel „Sie“) ist wahrscheinlich für einen echten Fan sowieso schon kein echter Stephen King (wie „Ich“ von Karl May eigentlich auch kein echter Karl May ist). Er hat nämlich eine wunderbar plumpe Selbstironie. Paul Sheldon, ein erfolgreicher Trivialautor (Genre: Schmalz, nicht Horror), fällt nach einem Autounfall in die Hände einer seiner Leserinnen, Anne Wilke, einer psychotisch-depressiven Krankenschwester. Sie vernichtet das Manuskript des Romans, mit dem er sich endlich als seriöser Autor profilieren wollte, und zwingt ihn, einen weiteren Schmalzroman für sie zu schreiben. Die Leserin verstümmelt den Autor, der Autor bringt seine Leserin um. Soviel zur Liebe zwischen Literaturproduzenten und Rezipienten.
Stephen King salviert sich elegant vom Vorwurf, nur Trivialautor zu sein, auf Kosten seiner Leser und gibt ihnen zugleich das Gefühl, große Literatur zu lesen. Denn „Misery“ arbeitet mit allen äußeren Anzeichen moderner Romantechnik. Stephen King ist nicht Paul Sheldon, und die liebe Leserin ist nicht die garstige Anne Wilke. Diese Mischung aus Schmeichelei und Verachtung für den Leser, die durchschaubare Ironisierung des Schreibhandwerks und der naive Stolz auf die Manipulationsfähigkeit des Geschichtenerzählers, die ganze schöne Selbstbezüglichkeit, die „Misery“ im Stephen-King-Kosmos einzigartig macht, geht auf der Bühne natürlich verloren. Statt dessen gibt es aber anderes.
Durch Angst zur Lust, heißt es, sei der Mechanismus eines Thrillers. Doch Angst ist eigentlich keine Stimmung des Theaters. Dazu ist die Illusion zu gering. Wenn da die Axt das Bein abhackt, gibt's johlendes Gelächter. Schrecken, nicht Angst, ist ein dem Theater seit altersher zugeschriebener Affekt. Und der teilt das Moment der Überraschung mit dem Lachen. Leander Haußmann, der gewiefte Theaterhase mit empfindlichem Sinn für Effekte, läßt die Geschichte denn auch ganz schnell und witzig beginnen. Anne Wilke hat keine unheilschwangeren katatonischen Blackouts, sondern nur die Angewohnheit, manchmal unmotiviert herumzutänzeln.
Margit Carstensen spielt sie etwas hektisch, redselig, aber herzlich und harmlos. Wie sie dann plötzlich heftig und hart wird, wie aus dieser zarten, freundlichen Person eine Kasernenhofstimme bellt, wie die rastlose Geschäftigkeit umschlägt in ruhigen Wahnsinn, wie sie hart nebeneinander kindliche Zutraulichkeit und kalte Rache der Verzweiflung verkörpert, ist große hysterische Theaterkunst im kleinen Horrorladen. Sie allein macht das Machwerk nicht nur erträglich, sondern sehenswert. Nur ihr Partner, Edzard Haußmann, bleibt beim biederen Schaustellerhandwerk.
Leander Haußmann, der Regisseur, nimmt das Gegrusel gar nicht ernst, spielt Komödie und lullt uns ein mit viel Gelächter. Dann überfällt er uns mit Schockeffekten: blitzschnell auftauchenden und wieder verschwindenden Halluzinationen Pauls, haarscharf vermiedenen Scheinkatastrophen. Ein zischendes, ohrenbetäubendes Schreckgeräusch springt uns plötzlich an den Höhepunkten an. Das ist die Dramaturgie der Geisterbahn, Gekicher und Gekreisch, nicht dumpfe oder panische Angst will er bewirken.
Und um kurz vor eins (der billige „gute“ Schluß der Bühnenversion ist gestrichen, Anne scheint tot, da kommt sie grinsend wieder hoch) schickt Leander Haußmann uns dann heim, wie immer mit den besten Wünschen: „Nun träumen Sie mal schön...“ Gerhard Preußer
„Misery“ von Simon Moore nach Stephen King. Deutsch von Frank Küster. Schauspielhaus Bochum. Regie: Leander Haußmann. Mit: Margit Carstensen und Edzard Haußmann. Nächste Vorstellungen am 24. und 31. Oktober
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