Wo die Leinwand zum Seziertisch wird

■ Der Arzt, die Dichter und die Kunst: Die Sammlung von Dr. Reiner Speck im Kölner Museum Ludwig steckt voller Anspielungen auf die Medizin

Zuviel Kunst benebelt. Im Kölner Museum Ludwig hat der Architekt Oswald Mathias Ungers für die Sammlung Speck eine Raumfolge weißer Kabinette entworfen: 33 weißwandige Wohnzimmer für die Kunst, kein Schloß hat so viele. Seit einem guten Vierteljahrhundert sammelt der Arzt Dr. Reiner Speck Kunst – nicht nur Großformatiges, sondern auch Dokumente des Künstleralltags: Notizen, Briefe, Bücher, Auflagenobjekte mit Widmungen. Aus Specks Besitz ließe sich problemlos eine „1000 Meisterwerke“-Reihe der letzten 25 Jahre komponieren.

Und es ist alles da: Das „Orpheus“-Graffito von Cy Twombly (1975) oder „Tischrücken“, ein Gemälde von Sigmar Polke (1981), oder „Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V“, eine Installation mit Filzpantoffeln und Trageschildern von Joseph Beuys (1972) – eins wie das andere Schlüsselwerke der Gegenwartskunst. Ein Besuch der überbordenden Ausstellung ist Pflicht, mehrere notwendig.

Wenn man die Sammlung mit Musik vergleicht, ergibt sich ein monumentaler Sound. Beispielhaft verfolgt anhand einzelner Werke, würde er sich ungefähr so anhören: zuerst ein subsonischer Bass – Carl Andres „81 Steel Cardinal“, ein begehbares Quadrat aus neun mal neun Metallbodenplatten und ein Markenzeichen des Minimalismus seit den späten sechziger Jahren. Dann setzt eine Querflöte ein: Sigmar Polkes ironisches Stoffgemälde „Carl Andre in Delft“. Die gemalten Delfter Kacheln in Quadratformation verhohnepipeln Andres puristische Kunsthaltung und sind typisch für einen zweiten Schwerpunkt in Specks Sammlung: Werke deutscher, ausnahmslos männlicher Künstler aus den siebziger und achtziger Jahren.

Und schließlich wird der Klang komplettiert durch einen weichen House-Beat, wie er Rosemarie Trockels Strickarbeit „Freude“ entspräche. Auch Trockel hat es in ihrem „Strickbild“ wie Polke mit Kachelmotiven – sie webt das doppelte Zitat in ihre serielle Arbeit ein, als habe sie sich seiner im Supermarkt der Kunstgeschichte bedient. Die Sammlung Speck ist übrigens ein Club der „Junggesellen der Kunst“, wie Julia Kristeva im Katalog treffend schreibt – Rosemarie Trockel zieht in dieser Herrenrunde recht einsam ihre Bahnen.

Andre, Polke, Trockel: eine außergewöhnliche, fast schon kanonische Konstellation im Mikrokosmos der Kölner Privatsammlung. Um das Übersichtlichkeitsproblem zu lösen, lassen sich in Specks Welt problemlos eine oder mehrere Subebenen installieren. Eine davon wäre die Bibliothek. Hinter jeder Leinwand steckt bei Speck ein Buch, neben jedem Katalogbild ein ausgewählter Artikel. Auch in die Kunstwerke schleichen sich Worte ein, gerade in die kleinen, eher unauffälligen Arbeiten – graphische Blätter, Drucke, Multiples und von Künstlern gestaltete Bücher, auch Postkarten geben oft persönliche Auskünfte, sind meist die spontaneren Zeugnisse von Sammler-Künstler-Beziehungen.

Warum unterschreibt der Künstler Blinky Palermo eine Bleistiftzeichnung mit „Für Dr. Speck von einem dankbaren Patienten“? Hat Palermo, der viel zu früh verstorbene Schüler von Joseph Beuys, sich beim Urologen Speck wegen Krankheit in Behandlung begeben und mit einer Eigenproduktion bezahlt? Was für eine Art Psychogramm illustriert der Dankesgruß? „Leiden warum – Leiden wozu“, heißt es in einer Arbeit Martin Kippenbergers auf Hotelbriefpapier, und in einer weiteren Zeichnung: „We don't need another doctor, because we are not ill and that stuff.“

Endgültig zum Theorem wird die Künstler-Arzt-Beziehung bei Georg Herold, dessen „Künstlerische Medizin, Patho-Ontologie“ wie eine Glasvitrine voller Medizinflaschen aussieht, tatsächlich aber eine „Nullserie“ von Multiples ist. Herold zeigt sich insbesondere fasziniert von einem urologischen Instrument Specks und schließt: „Eine Prostatauntersuchung durch einen Künstlerfinger kann das rektale Erlebnis als Kunstereignis definieren!“

Das Bindeglied zwischen Sammler und Künstlern liegt eher in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Speck hatte Herold einen Faksimiledruck eines seltenen (pseudo-)wissenschaftlichen Werks zur freien Verfügung gegeben. Titel: „Das Hirn des Negers“. Herold karikierte das Erkenntnisinteresse an der Minderwertigkeit durch Pseudo-Versuchsanordnungen: Zwei Tassen voller Pflanzengranulat, beide gleich voll – der Beweis ist geführt, „weißes“ und „schwarzes“ Hirn sind identisch. Die Installation von Herold gehört zu den jüngsten Ankäufen Specks, der offensichtlich noch kurz vor Ausstellungsbeginn auf der Suche nach weiteren Kunstwerken war – es mußte ein Supplement zum Katalog gedruckt werden.

Zum Reigen aus Künstler-Patient, Sammler-Arzt und Humanwissenschaftler gesellt sich auf einer weiteren Ebene der Dichter. Auch dieser Bezug ergibt sich aus der Vita des bibliophilen Speck, der über „Medizinisches im Werk von Gottfried Benn“ promoviert hat. „Ich weiß, wie Huren und Madonnen riechen.“ Aus Benns Gedicht „Der Arzt“ spricht eine Sprache, die den Körper nicht mit Hygienephantasien reglementieren will, sondern: „Ich lebe vor dem Leib, und in der Mitte klebt überall die Scham.“ Speck war 1969 vor allem von der Eindringlichkeit der Bennschen Beobachtung fasziniert. Die Witwe Benn ließ dem frisch Promovierten einen Scheck zukommen, da er der erste war, der den Arzt im Dichter sah. Damals hätte Speck das Geld dringend benötigt. Dennoch bewahrt er den Scheck natürlich auf. Holger Liebs

Sammlung Speck, Museum Ludwig Köln, bis 17. November. Der Katalog ist im Oktagon Verlag erschienen und kostet 58 DM