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Belgien verflucht die eigene Justiz

Nach der Entscheidung, dem Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte das Kindermord-Verfahren Dutroux zu entziehen, kommt es im ganzen Land zu spontanen Protesten  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Ein paar Dutzend Demonstranten hatten die ganze Nacht vor dem Justizpalast ausgeharrt, um gegen die Absetzung des Untersuchungsrichters Jean-Marc Connerotte zu protestieren. „Wir bleiben hier stehen bis zum Sonntag“, sagt einer, „bis zur Großdemonstration.“ Und ein anderer assistiert: „Da werden wieder Tausende kommen und denen einheizen.“ Er deutet mit dem Finger irgendwo nach oben, auf die Fenster über den Säulen der fast fünfzig Meter hohen Eingangshalle.

Dort oben hatten die fünf Richter des Kassationshofs, des obersten belgischen Gerichts, am Montag nachmittag entschieden, daß der Untersuchungsrichter von Neufchateau, Jean-Marc Connerotte, das Verfahren gegen den Kindermörder und Pornohersteller Dutroux niederlegen müsse. Connerotte, der versprochen hatte, alle Hintermänner und Kunden des Kinderhändlers ausfindig zu machen, hatte den Fehler gemacht, an einem Spaghettiessen teilzunehmen, mit dem sich die Eltern der von Connerotte lebend gefundenen Kinder Laetitia und Sabine bedanken wollten. Der Verteidiger von Dutroux hatte deshalb einen Befangenheitsantrag gestellt und Recht bekommen.

Vor dem Gerichtsgebäude war es daraufhin zu lautstarken Protesten gekommen, Hunderte hatten den Namen Connerotte skandiert und die obersten Richter wüst beschimpft. Die Eltern der entführten Mädchen stammelten ihre Verzweiflung in die Kameras. „Es ist, als ob man auf die Gräber von Julia und Melissa gespuckt hätte“, sagt Gino Russo, der Vater von Melissa, deren Leiche vor acht Wochen im Garten von Dutroux ausgegraben worden war.

Die Wut vieler Belgier ist vor allem deshalb so groß, weil die Justiz, die es beim Schutz der Kinder und bei der Aufklärung der zahlreichen Entführungen mit dem Gesetz nicht so genaugenommen hat, sich nun auf die Buchstaben des Gesetzes beruft. Der 1989 wegen Vergewaltigung von Kindern zu 13 Jahren verurteilte Dutroux war schon nach drei Jahren wieder freigelassen worden. Wie sein Komplize Michel Nihoul wurde er nachweislich von hohen Polizei- und Justizbeamten gedeckt. In weiten Teilen der Bevölkerung hat sich der Verdacht festgesetzt, daß der ganze belgische Justizapparat in Mauscheleien verstrickt ist und deshalb scharf darauf war, sich Connerotte vom Hals zu schaffen.

Denn schon vor zwei Jahren war Connerotte ein Fall vom Kassationshof weggenommen worde, ein Mordfall, in den eine Reihe hoher Politiker verwickelt war. Das Dossier wurde nach Lüttich überwiesen, wo es daraufhin verschimmelte. „Die wollen, daß wir wieder nicht die Wahrheit erfahren“, fürchtet einer der Demonstranten vor dem Brüsseler Gericht.

Wenn Justizgebäude deshalb so groß gebaut werden, um die Menschen einzuschüchtern, dann hat der Architekt des Brüsseler Justizpalastes ganze Arbeit geleistet. Das kleine Häuflein, das da am Morgen noch auf den riesigen Treppen steht und vor sich hinfriert, wirkt vor dem gigantischen Bauwerk so ohnmächtig, wie sich viele von ihnen fühlen. „Die Justiz ist gegen die Bevölkerung“, schimpft einer. Und eine Frau echauffiert sich: „Die schützen die Verbrecher!“ Doch was sie sagen, erstickt im Lärm des vorbeibrausenden Berufsverkehrs und der angrenzenden Baustelle.

Selbst als am frühen Vormittag 600 Arbeiter des Brüsseler VW- Werks ankommen, ist kaum etwas zu hören. Die Arbeiter sind aus Protest gegen den Spruch des Kassationshofs in einen spontanen Streik getreten und blockieren nun den Hauptzugang zum Gerichtsgebäude. Die Polizei versucht, die Situation unter Kontrolle zu halten. Sicherheitshalber warten ein paar hundert Polizisten in den Seitenstraßen.

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