Blitzsaubere Normalität

■ Theaterspektakel „Tunnelfieber“ als Passionsspiel zur Nazidiktatur am vergangenen Samstag in Osterholz-Scharmbeck / Heimische Kulturgruppen lehnten Teilnahme ab

Es ist Gedenktag in Osterholz-Scharmbeck, und kaum einer geht hin. Zwar vermerkt der Kalender kein besonderes Ereignis. Auch ein Datum aus dem Lebenslauf irgendeines berühmten Bürgers des Doppelkreisstädtchens ist nicht zu begehen. Und doch künden an diesem Sonnabend nachmittag abgesperrte Hauptstraßen und ratlose Blicke der wenigen Passanten davon, daß etwas Außergewöhnliches geschieht: „Tunnelfieber“, ein Spektakel zum Gedenken an jene Tage im Frühjahr 1933, als die NSdAP auch in Osterholz-Scharmbeck die Macht „ergriff“.

Ein weitergezogener Schauer, die Straße noch regennaß. Wir queren eine Kreuzung, passieren das Kriegerdenkmal, das Elektrofachgeschäft, den überdimensionierten Neubau der Sparkasse, den Bäcker, den Friseur, die Filialen von Deutscher und Raiffeisenbank. Und dann: endlich ein Mensch. „Tschuldigung, wo ist'n hier der Marktplatz?“ „Da lang, immer geradeaus und dann rechts.“

Der Marktplatz von Scharmbeck ist eine Inszenierung aus „Wohn- und Geschäftshäusern“, einem Ententeich und historischen Türmchen. Eine neue Heimat mit bunten Schriftzügen über den Schaufenstern und Gardinen vor denen der Wohnungen. Auftritt einer, der sich als Heinrich vorstellt und den rund 80 zum Halbkreis versammelten ZuschauerInnen ankündigt, durch die einsetzende Handlung führen zu wollen.

Fünf, vielleicht zehn bekennende Nationalsozialisten habe es zu Beginn der Dekade in Osterholz und in Scharmbeck gegeben. Doch im Februar '33 vermehrten sie sich zu Aufmarschstärke und gewannen bei den Kommunalwahlen im Folgemonat die absolute Mehrheit, was für die Opposition wie für die einst acht Dutzend deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens die bekannten Folgen hatte: Auch die letzten widerstrebenden Kaufleute hätten das Plakat „Juden unerwünscht“ zum Aushang im Schaufenster abgeholt, gibt etwa die örtliche Zeitung in der Mitte der Dekade bekannt, und eine amtliche Liste meldet wenig später „Cohen, Hans Israel, verzogen nach Theresienstadt“. Es ist diese lokale Dimension des Schreckens, die spätestens seit Beginn der 70er Jahre landauf, landab ungezählte Geschichtsarbeitskreise zusammentreten ließ und den Kollektiven gewollten Erinnerns vielfach die Erfahrung bescherte, daß da Tabus zu verletzen und Anfeindungen auszuhalten sind. Und wer glaubt, das Ganze sei langsam gegessen und die Spannung verpufft, irrt: „Hier im Teufelsmoor gibt es große und weitverzweigte Clans“, sagt Birgit Wiechmann vom veranstaltenden Kulturzentrum Kleinbahnhof, „und die hatten Angst, daß wir Namen nennen.“

Bitte keine Namen nennen

Ein Kind schreit, zwei andere lachen und drei weitere posieren so kühn wie kokett auf ihren Fahrrädern als sich „Heinrich“ (alias Mathias Siebert, Komponist und Leiter der „Young Musical Fools“ aus Bremen) in die Kulisse zurückzieht. Ein kahlgeschorener Darsteller gibt den Gauleiter und redet vom Podest herab von „sozialer Gerechtigkeit“ und „Volksschädlingen“. Ein Kommunistenpärchen muckt auf und wird abgeführt. Das historische Geschehen gerinnt zur Szenencollage und kontrastiert seltsam mit der blitzsauberen Normalität rundum.

An der alten, durch eine Menora kenntlich gemachten Synagoge vorbei die Bahnhofstraße hinauf und wieder hinab führt der Weg. Unter den Augen von AnwohnerInnen, die aus ihren Fenstern schielen, animiert „Heinrich“ zu Übungen a la „Kraft durch Freude“ sowie zur gemeinsamen Pflege deutschen Liedguts.

Betroffenheit steht den von SchauspielerInnen wie Edda Loges (niederdeutsche Theaterszene) oder Benedikt Vermeer (Theater Satyricon) unterstützten „Young Musical Fools“ in den kindlich bis jugendlichen Gesichtern geschrieben. Und das ist genauso gut verständlich wie unangemessen.

Es war eine Aktion von und für Osterholzer geplant, und die Verpflichtung auswärtiger SchauspielerInnen sei nur eine Notlösung gewesen, sagt Birgit Wiechmann vom Kulturzentrum Kleinbahnhof. Sie habe zu sämtlichen Kulturgruppen der Stadt Kontakt aufgenommen. Doch alle hätten abgelehnt und gesagt: So – als Straßentheater – „kann man das doch nicht machen“. Oder schlicht: „Oh nein, nicht schon wieder.“ Zwar steckt das inszenierte Erinnern nach Ablauf all der 50sten Jahrestage anno 1996 im Dilemma, einerseits kaum Vorkenntnisse voraussetzen zu können und andererseits nicht schon sattsam Bekanntes wiederholen zu dürfen, um noch Aufmerksamkeit zu erzielen. Doch das fehlende Interesse der Osterholzer offenbart, daß das Medienecho um die Goldhagen-Thesen Falsches vortäuscht und die befürchtete „Normalisierung“ doch eingetreten ist – es war Gedenktag in Osterholz, und kaum einer ging hin.

Christoph Köster