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Sehnsucht nach der märchenhaften Wirklichkeit

Vor 40 Jahren gingen die Ungarn auf die Straße. Gegen die Parteidiktatur und sowjetische Besatzungsmacht. Nach der Wende im Jahre 1989 reklamierten Ungarns neue Machthaber das Erbe des Aufstands für sich. Doch die Revolutionäre von 1956 wollten keine Restauration des Kapitalismus  ■ Von István Eörsi

Am 23. Oktober 1956 brach in Budapest ein Aufstand aus. Er hatte zwei Ziele: die Erringung der nationalen Unabhängigkeit und den Sturz der stalinistischen Machtstruktur. Der Volkszorn richtete sich sowohl gegen die sowjetische Besatzung als auch gegen die Diktatur der Partei, denn diese beiden Dinge waren eng verbunden. Ohne sowjetische Hilfe hätte die Partei, wie sich bald herausstellen sollte, keinen Tag ihr Machtmonopol bewahren können. Und ohne die Partei hätte sich Ungarn keine Woche lang in die sowjetische Einflußsphäre zwingen lassen. Die Diskussion, ob in diesen Tagen ein Freiheitskampf oder eine Revolution ausgebrochen sei, entbehrt jedes Sinns. Denn unter den damaligen Umständen war das eine Voraussetzung und Nährboden für das andere.

Die Führer der Staatsmacht unter János Kádár, die sich nach dem 4. November 1956 im Schlepptau der sowjetischen Panzer etablierte, führten ihren ehemaligen Genossen Imre Nagy, Ministerpräsident in den Tagen vor der Revolution, trotz Amnestieversprechens unter den Galgen. Er hatte es nämlich abgelehnt zu demissionieren und so die Illegitimität der Regierung Kádár in ein grelles Licht getaucht. Deshalb läutete in Ungarn die feierliche Neubestattung von Imre Nagy und seiner ebenfalls angeklagten Mitstreiter 1989 die Wende ein. Kádár stürzte schließlich wie Kreon, der König von Theben, weil er es nicht zuließ, daß die Toten begraben würden. Freilich, einem Kádár konnte auch gar keine Antigone drohen, denn wer auch immer hätte Gerechtigkeit tun wollen, er oder sie hätte die Leichen nicht gefunden, die irgendwo verscharrt worden waren, mit Draht zusammengebunden, die Gesichter nach unten gekehrt.

Nach der Wende 1989 schöpfte die neue Macht ihre Legitimation aus der wiederhergestellten Kontinuität mit der Revolution von 1956. Kádárs Zöglinge legten im Namen der Ungarischen Sozialistischen Partei mit den Angehörigen der Hingerichteten, einstigen politischen Gefangenen sowie den Vertretern der 56er-Verbände und der neuen Parteien Kränze an den Särgen der Revolutionäre nieder. Dieser mehr als symptomatische Kompromiß tauchte aber jene Kontinuität zwischen dem neuen demokratischen System und der Revolution in ein ominöses Licht.

Der Bankrott dieser Absicht zeichnete sich nicht nur auf der moralischen Ebene ab. Denn dies war eine Zeit, in der die politische Rechte in Ost und West glaubte, sie wäre rehabilitiert. Die Revolution war jedoch ein Weltereignis von verblüffend linker Natur. Zum einen pfiff sie auf die Vereinbarungen der Großmächte und trat an, das Gleichgewicht der in Militärblöcke aufgeteilten Welt zu kippen. Jalta setzte zwar dem Appetit der Großmächte Grenzen, gleichzeitig fühlten sie sich aber auch vor tödlichen Risiken sicher.

Als Imre Nagy im Namen der Regierung Anfang November 1956 den Warschauer Pakt aufkündigte und die vier Großmächte ersuchte, die Neutralität Ungarns zu garantieren, stellte er den Westen und vor allem die USA vor eine Herausforderung. Ungarn wurde von den USA in erster Linie sich selbst überlassen, weil der Status quo dem Westen sehr zugute kam. Ein Status quo, in dem – als Folge des Überfalls auf Ungarn – die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern geschwächt wurden. Und der bedeutendere Teil der mit der Sowjetunion sympathisierenden linken Intelligenz mit der Illusion von der Reformierbarkeit des real existierenden Sozialismus brach.

Dieser Versuch, den Status quo aus den Angeln zu heben, stellte zweifellos eine revolutionäre Tat dar, welche die einander anfletschenden Gegner des Kalten Krieges mit einem Schlag ihre gemeinsamen Interessen erkennen ließ. Aus heutiger Sicht erscheint es aber noch verblüffender, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung eine Restauration des Kapitalismus ablehnte. In den Tagen der Revolution akzeptierten nicht nur die vier Koalitionsparteien das Programm des Sozialismus nichtsowjetischen Typs. Auch außerhalb des Machtgefüges gab es keine Kraft, die sich für eine Wiederherstellung der Eigentumsverhältnisse der Vorkriegszeit stark gemacht hätte. Als einer meiner Zellengenossen, ein „Kulake“, im Gefängnis 1958 seufzte, daß er im Falle des Sieges der Revolution seine Mühle zurückerhalten hätte, sprang ihm ein sozialdemokratischer Kraftfahrer an die Gurgel. „Wir sitzen im Knast. Beklagen wir deshalb die vielen Toten, damit du deine Mühle wiederbekommst?“ schrie er.

Kurzzeitig doppelte Machtstruktur

Nach der Niederschlagung der Revolution entstand für einige Wochen eine doppelte Machtstruktur. Auf der einen Seite versuchte die von den Russen unterstützte Regierung Kádár ihre Herrschaft zu konsolidieren, auf der anderen Seite wußte der Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest die Beschäftigten der Industrie hinter sich. Als Gesandter des Schriftsteller-Verbandes konnte ich an allen Sitzungen seines Führungsgremiums teilnehmen. Ich kann bezeugen, daß jeder, der sich als Kommunist bekannt hätte, hinauskomplimentiert worden wäre und daß selbst dem Wort „Sozialismus“ ein scheußlicher Beiklang anhaftete. Hätte jemand vorgeschlagen, die Fabriken ihren früheren Besitzern zurückzugeben, wäre er aus dem Fenster geflogen. Der Arbeiterrat vertrat die Auffassung, daß die Werktätigen selbst die Betriebe besitzen und verwalten müßten.

Heute mag man über den utopistischen Pathos der Revolution lächeln. In der Ära der Globalisierung und der wissenschaftlich-technisch-industriellen Revolution stellt sich die Wettbewerbsfähigkeit der erprobten Formen des öffentlichen Eigentums als verschwindend gering dar. Trotzdem denke ich, daß dieser Ausbruch der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gleichheit von seelisch-moralischen Bedürfnissen zeugte, die zwar verdrängt, nicht aber für immer begraben werden können.

Das derzeit armselige Ideologie- Angebot wird, mit den in den entwickeltsten Ländern erfahrbaren antisozialen gesellschaftlichen Tendenzen, in immer breiteren Schichten die Sehnsucht nach einer radikalen Andersartigkeit wecken. Und Sehnsüchte dieser Art erzeugen immer wieder Kontinuitäten mit Momenten vergangener Revolutionen. Das Zukunftsbild der ungarischen Revolution war aus heutiger Sicht naiv und utopistisch. Doch die Mentalität dieser kurzen Epoche beschenkte die dafür Empfänglichen mit unvergeßlichen Beispielen einer wahrhaftigen Citoyen-Moral. Auslagen mit zerbrochenen Scheiben, aus denen niemand etwas mitnahm; in Kisten, mitten auf der Straße, häuften sich Geldspenden für die Angehörigen der Gefallenen an. Einige Wochen lang regierte eine Moral, die vom Gefühl menschlicher Zusammengehörigkeit und nicht vom materiellen Interesse diktiert wurde.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1990 wurde klar, daß das neue Zeitalter mit jener Revolution nichts mehr gemein hatte. Wir betrauern die Opfer der Kádárschen Vergeltung, doch gegenüber den Überlebenden verteidigen wir die Persönlichkeitsrechte der Spitzel. Die Neutralität gilt als retrogrades Prinzip, denn wir laufen mit den übrigen Ländern der Region dem Zielband Nato entgegen um die Wette. Der Kapitalismus ist nicht nur lebensfähiger als der Sozialismus, seine neuen Anhänger sind auch aus ästhetischen Gesichtspunkten geradezu verrückt nach ihm. Wer ihn hingegen für häßlich hält, rechtfertigt sogar die gesetzlosen Aktionen der neuen Haie. Wenn ein Prozeß historisch notwendig ist, dann ist ein sentimentaler Esel, wer seine Scheußlichkeiten nicht akzeptiert. Denn je widerwärtiger dieser Prozeß verläuft, desto schneller wird wahr, wonach wir alle so dürsten.

So wurde das, was im Sommer 1989 legitimierende Ursache war, zum Alibi des Machtwechsels, und selbst dieses Alibi wird verwässert. Die erste frei gewählte rechts-nationale Regierung unter Antall setzte es 1990 durch, daß nicht das Wappen der Revolution, sondern das mit der Krone und dem Doppelkreuz, das an groß-ungarische Reichs-Ambitionen erinnert, zum wichtigsten Symbol des Landes bestimmt wurde. Die Gedenkfeiern für 1956 erhielten in diesen Jahren eine revanchistische Tönung, etwas, was der Revolution komplett fremd war. Heute, nach dem Regierungswechsel im Jahr 1994, provoziert der Feiertag auf andere Weise. Staatspräsident Arpád Göncz, der nach 1956 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, trifft beim Kranzniederlegen auf Ministerpräsident Guyla Horn, der nach der Niederschlagung der Revolution in jene Arbeiter-Miliz eintrat, die halb Ungarn niedergummiknüppelte, und auf Parlamentspräsident Zoltán Gál, der im Endstadium des Parteistaates Vize-Innenminister war. In jener Zeit, als ein bedeutender Teil der Akten des Innenministeriums vernichtet wurde. Das ist auch dann peinlich, wenn Horn persönlich nicht geprügelt, Gál die Aktenverbrennung nicht persönlich angeordnet hat. Das Leben, das ein Wildwestkapitalismus mit zunächst feudal-gentryhaftem, dann apparatschikhaftem Ruch durchdringt, erinnert an die Zügellosigkeit der ursprünglichen Kapital- Akkumulation und schlägt immer weniger natürliche Brücken zum Gedenktag der Revolution.

1956 existierte und existiert weiter

Sollen wir ihn also als reines Geschichtsdatum auffassen? Die ungarische Revolution zeigte seit Kronstadt erstmals über längere Zeit hindurch auf, daß die Arbeiter den Sowjet-Sozialismus nicht wollen. Das habe ich auch schon 1956 klar gesehen. Als János Kádár behauptete, daß die Arbeiterklasse nicht gegen ihre eigene Macht revoltieren kann, wir es also mit einer Konterrevolution zu tun hätten, setzte ich seiner Argumentation als guter Marxist eine Erfahrungstatsache entgegen. Die Arbeiterklasse hat revoltiert. Nachdem es unmöglich ist, daß eine Klasse gegen ihre eigene Macht revoltiert, hat es in Ungarn keinen Sozialismus geben können. Falls doch, dann hatte man vergessen, der Arbeiterklasse mitzuteilen, daß sie an der Macht ist. Diese kritisch-ironische Betrachtungsweise machte in den Jahrzehnten nach 1956 in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion Karriere und trug zum Sturz des totalitären Pseudosozialismus entscheidend bei. Doch noch mal: Was sollen wir heute mit den historischen Erfahrungen von 1956 anfangen?

Wenn ich um jeden Preis eine Antwort geben wollte, würde ich am liebsten aus meinem Artikel zitieren, den ich aus Anlaß des 30. Jahrestages der Revolution für eine Samisdat-Zeitung verfaßte: „1956 existierte und existiert weiter, trotz seiner Andersartigkeit, weil es Teil eines revolutionären Gebirgszuges ist. Im Leben der Nation besteht jedoch nur dann eine Aussicht auf eine Fortsetzung, wenn es jenen, die diesen Jahrestag als Feiertag begreifen, gelingt, diese märchenhafte Wirklichkeit organisch in ihr Leben einzugliedern.“ Dieses würde nicht leichtfallen, fügte ich hinzu. Auch heute ist es nicht leicht, denn die politische Freiheit, in der wir seit 1989 zum Glück leben, legitimierte zwar die Revolution neu, würde aber am liebsten das Andenken an sie trotz aller Hochachtung in die Rumpelkammer sperren. Aus diesem Grunde ist dieser schöne runde Jahrestag so peinlich.

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