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Doch nur Kathedralen in der Wüste

Serie: „Industriestadt Berlin auf dem Prüfstand“ (Folge 2): Die Bio- und Medizintechnologie gilt als einer der großen wirtschaftlichen Hoffnungsträger. Den hiesigen Erfindern fehlen aber die Produktionsbetriebe  ■ Von Hannes Koch

Als Ex-Daimler-Vorstand Edzard Reuter noch auf seinem Sessel saß, entwickelte er eine Vision. Berlin müsse sich zum Ziel setzen, in die Spitzenklasse der „heute identifizierbaren, globalen Megazentren“ aufzusteigen“, erklärte er der versammelten Unternehmerschaft der Stadt bei einer Tagung im Juni 1994. „Ich halte es keineswegs für abwegig“, sagte Reuter damals, „Berlin-Brandenburg in Vergleich zu setzen mit erfolgreichen Metropolenregionen wie Dallas und Hongkong.“ Es gehe um nichts Geringeres als den „Zugang zu den 800 Millionen Verbrauchern, die in den Megazentren leben“.

Reuter ist mittlerweile gestürzt, doch die Idee lebt weiter. Günter Peine allerdings geht sie erst einmal ganz praktisch an. Seinen BesucherInnen serviert der Leiter des BioTop-Büros der Länder Berlin und Brandenburg zum Kaffee grüne Kekse. Das seltsame Gebäck, weiß Peine, bestehe zu 96 Prozent aus Trockenmasse von Algen, die in einem „Bioreaktor“ des Instituts für Getreideverarbeitung bei Potsdam aufgezogen wurden. Ein Produkt made in Berlin-Brandenburg, mit dem man in Zukunft vielleicht Geld machen kann.

Außerdem sind die Kekse ein Ergebnis der Biotechnologie, erklärt der Biologe Peine, dessen Aufgabe es ist, die bio- und gentechnische Forschung und Produktion in der Region nach Kräften zu unterstützen. Die zentrale Organisation der Wirtschaftsförderung – sie residiert in den schicken Glaspalästen am Charlottenburger Spreeufer – wurde nicht zuletzt deshalb gegründet, weil es einige Millionen Mark aus Bonn abzugreifen gilt. Denn Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers hat gerade einen Wettbewerb ausgelobt, um die drei biotechnologischen „Musterregionen“ der Bundesrepublik ausfindig zu machen. Erhält Berlin-Brandenburg unter den 17 Mitbewerbern den ersten Preis, fließen 50 Millionen Mark in Richtung Spree und Havel.

Die herrschende Politik und Wirtschaft der Region haben sich auf die Jagd nach der weltweiten Konkurrenzfähigkeit gemacht. Wie überall folgt diesem Beschluß auch ein bestimmtes Muster der Wirtschafts- und Industriepolitik: Man feiert die sogenannte „Hochtechnologie“, darunter die Bio- und Gentechnik. In keiner Imagebroschüre der Wirtschaftsförderung, in keiner Politikerrede darf außerdem der Hinweis fehlen, daß die Region über „hervorragende Voraussetzungen“ im Bereich der Medizintechnik verfüge. Unter anderem diese drei „Schlüsseltechnologien“ nähren die Hoffnung, wenigstens langfristig die hiesige Wirtschaftskrise überwinden zu können.

In der Tat hat die Region auf diesem Sektor mehr zu bieten als in den meisten anderen Branchen. Rund 200 Unternehmen stellen hier elektromedizinische Geräte her, etwa 60 arbeiten auf dem Gebiet der Biotechnologie und weitere 27 widmen sich speziell der Entwicklung und Produktion von Lasern. Hinzu kommen, lobt die Imagefirma „Partner für Berlin“, 94 Kliniken und 3.000 medizinische Wissenschaftler. „Berlin ist ein guter Platz“, schätzt auch Alexander Nagel, 27jähriger Geschäftsführer der Firma ProBioGen in Adlershof. „Hier gibt es eine hohe Dichte von Betrieben.“ 1995 hat Nagel sich mit vier KollegInnen selbstständig gemacht, um mit biotechnologischen Methoden Antikörper herzustellen und so die tierquälerische Produktion an lebenden Mäusen überflüssig zu machen.

Schon traditionell hat Berlin auf den Gebieten der Medizin- und Biotechnologie einiges zu bieten. So entwickelte Schering Ende der fünfziger Jahre hier die erste, später in Großserie hergestellte Verhütungspille außerhalb der USA. Die Firma Berlin Heart-System produziert das bis vor kurzem einzige aus Europa stammende künstliche Herz. Das Unternehmen Biotronik stellt Herzschrittmacher her. Auch Verfahren der minimalinvasiven Chirurgie, die tiefe Operationsschnitte in die Bauchdecke durch kleine Löcher ersetzen, sind hier zur Anwendungsreife gelangt.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind es allerdings kleine und Kleinstunternehmen, die hierzulande die aufstrebenden Branchen ausmachen. Wer etwa die Broschüren des Biomedizinischen Forschungscampus in Buch durchsieht, entdeckt Firmen, die zwei, fünf, manchmal auch 20 MitarbeiterInnen beschäftigen. Optimistisch geschätzt stehen bei den Biotech-Betrieben der Region gerade mal 3.600 Leute in Lohn und Brot. Zum Vergleich: In einem beispiellosen Aderlaß hat allein die Berliner Industrie seit dem Jahr 1990 mehr als 200.000 ArbeiterInnen auf die Straße gesetzt. Angesichts dieser Relationen kommen Zweifel auf, ob die modernen High- Tech-Branchen einen nennenswerten Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes und zur Entwicklung der Wirtschaftsstruktur leisten können.

Es könnte das entstehen, was die Stadtsoziologie bereits heute als die „geteilte Stadt“ bezeichnet. Während Adlershof als High- Tech-City der Aufstieg bevorsteht, sieht die Lage nur zehn Autominuten entfernt sehr düster aus. In den alten Industriearealen von Oberschöneweide stehen die Hallen leer, die Wohnhäuser an der Wilhelminenhofstraße verfallen. Die Leute flüchten vor der Depression, ziehen weg. Für die neuen Wohnungen, die in Adlershof bald neben den prosperierenden Laboren gebaut werden, sind MieterInnen wohl viel leichter zu finden.

Das Mißverhältnis zwischen Abbau hier und beschränktem Aufbau dort markiert einen gravierenden Strukturwandel, den der Wirtschafts- und Sozialgeograph Stefan Krätke von der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/ Oder als Übergang vom „fordistischen zum postfordistischen Industriezeitalter“ beschreibt. Schockartig hat diese Zeitenwende seit 1990 Berlin und Brandenburg erfaßt.

Der Begriff des „Fordismus“ ist abgeleitet von der durch Henry Ford erstmals prakizierten industriellen Massenfertigung des Automobils. Insbesondere im 20. Jahrhundert entstanden riesige Fabriken, in denen Zehntausende von Beschäftigten in hochgradig arbeitsteiliger Produktion Investitions- und Konsumgüter herstellten. Diese Art der metropolitanen Produktion freilich ist spätestens seit den 70er Jahren durch die Sättigung der Märkte, die Globalisierung der Produktion und die zunehmende internationale Konkurrenz in die Krise geraten. Die Dinosaurier sterben. Berlins einst blühende Maschinenbau- und Elektroindustrie legt darüber beredtes Zeugnis ab.

An ihre Stelle soll nun langsam, aber sicher die „postfordistische“ Produktionsweise treten. Kleine, flexible und spezialisierte Betriebe in den Industrieländern entwickeln und vertreiben innovative High-Tech-Produkte, für die sich auf dem Weltmarkt hohe Preise erzielen lassen, weil die Schwellenländer sie noch nicht herstellen können. Deshalb fördern die Metropolen-Regionen unter anderem die Bio- und Gentechnologie – egal, ob in Berlin oder Baden- Württemberg, Großbritannien oder den USA.

Allerdings, so merkt Wirtschaftsforscher Krätke an, müsse man es richtig machen. Werde einseitig die Hochtechnologie gepäppelt, ohne auf ein notwendiges Netzwerk mit anderen Branchen und der Wissenschaft zu achten, entstünden bloße „Technopole“ oder auch „Kathedralen in der Wüste“. Solle statt dessen der Erfolg auf weitere Bereiche der Wirtschaft ausstrahlen, müsse man zusehen, „regionale Produktionsmilieus“ zu fördern.

Darum bemühen sich der Senat und auch die brandenburgische Landesregierung. Als herrschendes Entwicklungsmodell gilt der Innovationspark, in dem kleine Unternehmen als industrielle Kerne vorzugsweise im Umkreis von Hochschulen angesiedelt werden. In den Kliniken von Buch etwa erforschen MedizinerInnen die Funktionsweise von Lebertumoren. Teilweise dieselben Wissenschaftler versuchen dann in privaten Unternehmen auf dem Gelände, die gentechnologischen Verfahren gegen den Leberkrebs zur Serienreife zu bringen. So entwickelt die Firma HepaVec sogenannte „Genfähren“, um durch das Einschleusen veränderten Erbmaterials in die befallenen Zellen den Krebs zum Stillstand zu bringen.

Andere Betriebe im Umkreis der Kliniken sollen perspektivisch die benötigten Labormaterialien herstellen, EDV-Unternehmen die Software liefern und Patentanwälte die Sicherung der Erfindungen übernehmen. Klappt eine derartige Kooperation, wäre ein „regionales Produktionsmilieu“ hergestellt. Die Wertschöpfung der Gentech-Firmen würde weiteren Betrieben Aufträge und Arbeitsplätze sichern.

Diesen Ansatz verfolgt nicht nur der Biomedizinische Forschungscampus Buch. Ähnliche Bestrebungen sind beim Zentrum Focus Mediport in Steglitz für die minimalinvasive Chirurgie und in Adlershof für den Bereich der Lasertechnologie im Gange. Zwei Kilometer vom Bahnhof Potsdam entfernt soll ein Innovationszentrum für die Aidsforschung entstehen. Und selbst für einen Biotech- Park im brandenburgischen Luckenwalde habe die Landesregierung 40 Millionen Mark lockergemacht, sagt BioTop-Leiter Günter Peine.

Die wissenschaftliche Infrastruktur der Region mit ihren zahlreichen Hochschulen und Forschungsinstituten dürfte derartige Versuche durchaus tragen. Nichtsdestoweniger äußert sich der Unternehmensberater Roland Berger skeptisch zu den Zukunftsaussichten. Ein entscheidender Baustein fehle nämlich, um die regionalen Produktionsmilieus zu komplettieren. „Die Erfindung“, so Berger, „findet vielleicht noch in Berlin statt, die Marktreife von Produkten und damit auch die Arbeitsplätze werden aber anderenorts geschaffen.“

Die Region exportiert Knowhow, den Innovateuren fehlt das Hinterland. Die mittelständischen Unternehmen, die die bio- und gentechnologischen Produkte herstellen könnten, sitzen größtenteils in Westdeutschland oder anderen Staaten. In den langen Mauerzeiten sind sie aus West-Berlin ausgezogen oder wurden woanders gegründet. Der Wirtschaftspolitik obliegt nun die Aufgabe, sie mit Millionensubventionen wieder anzulocken – ein Bemühen, das bislang nur wenig Erfolg gezeitigt hat. Denn die anderen Regionen – München, Heidelberg, das Ruhrgebiet – schlafen nicht und überbieten sich gegenseitig mit Geldgeschenken.

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