: Freier Tag auf Kosten des Kapitals
■ 10.000 MetallarbeiterInnen legten gestern die Produktion bei Mercedes-Benz, Siemens, BMW und anderen Betrieben lahm. IG Metall: „Keine Kompromisse bei Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“
Die roten Fahnen der Industriegewerkschaft Metall wehten gestern über dem Werktor von Mercedes-Benz in Marienfelde. Drinnen standen die Bänder still. „Die Arbeitgeber haben uns zum Klassenkampf gezwungen“, erklärte Betriebsrat Ali Erdogmus den wenigen Kollegen, die zur Arbeit gehen wollten. Betriebsrat Willi König blinzelte in die Oktobersonne: „Wir schenken uns einen freien Tag.“
Der bundesweite Aktionstag gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war kein Streik. Denn offiziell herrscht noch Friedenspflicht zwischen der Gewerkschaft und den Metallarbeitgebern, die den Lohn kürzen wollen. Weil die Spitzengespräche über diese Frage jedoch am Mittwoch gescheitert waren, gingen gestern in Berlin rund 10.000 MetallerInnen auf die Straße. Bei Siemens KWU, BMW, Babcock-Borsig und vielen anderen Betrieben stand die Produktion zeitweise still.
Auch 500 Beschäftigte der Bankgesellschaft Berlin versammelten sich früh um acht Uhr auf der Brunnenstraße. Sie sind besonders betroffen. Während Daimler und Siemens die Lohnkürzung erst einmal zurückgestellt haben, beharrt die Bank darauf, daß Kranke für jeden ausgefallenen Arbeitstag statt 100 nur 80 Prozent Gehalt bekommen.
Die größte Aktion der Stadt organisierte die IG Metall aber bei Mercedes-Benz. Drei Schichten fielen komplett aus, fast 2.700 Beschäftigte machten blau. Zu türkischen Trommel- und Flötenklängen tanzte der Betriebsratsvorsitzende Kurt Krause mit seinen Kollegen vor dem Werktor im Kreis. Alleine dem Daimler-Konzern hätten die Protestaktionen bislang 500 Millionen Mark Verluste wegen Produktionsausfalls beschert, sagte Krause. In seinen Reden zitierte er immer wieder das Motto: „100 Prozent. Basta.“ Mit ihm gebe es bei der Lohnfortzahlung keine Kompromisse.
Schließlich gehe es mittlerweile um viel mehr, erklärte der oberste Mercedes-Betriebsrat von Marienfelde. Die Metallunternehmen hätten inzwischen auch die Tarifvereinbarungen über den Urlaub und das Weihnachtsgeld gekündigt. Krause warnte, daß die Arbeitgeber die einmal erkämpften Sozialleistungen insgesamt verringern wollten – und den Lohn noch dazu.
Berlins IG-Metall-Chef Manfred Foede bezeichnete die Strategie der Unternehmer als „Generalangriff auf die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Sie wollen uns dort haben, wo sie die Gewerkschaften in England und Italien schon hingebracht haben.“ Auch Berlin-Brandenburgs DGB-Vorsitzende Christiane Bretz war zur solidarischen Aktion angereist. „Es kann nicht angehen, daß man bei der Bundestagswahl im Herbst 1998 wieder den Dicken wählt“, rief sie den protestierenden MetallerInnen zu. Schließlich habe Bundeskanzler Kohl die Lohnfortzahlung per Gesetz verringern lassen.
Viele Mercedes-Beschäftigte waren sich einig, daß sie für die Lohnfortzahlung auch in einen längeren Streik treten würden. Betriebsrat Karsten Schrott meinte, daß Streiks selbst schon zur Begleitung der nächsten Spitzengespräche mit den Arbeitgebern notwendig seien. Mit „gradem Rücken“ könne die IG Metall mehr Druck entwickeln. Hannes Koch
Siehe Seiten 1 und 4
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