: Das baufällige russische Haus
■ Durch Verträge sind Gebiete und Regionen mit Moskau verbunden. Doch die wahren Verhältnisse sind häufig nebulös
„Nehmt Euch soviel Souveränität, wie ihr könnt“, hatte Boris Jelzin noch im August 1990 den Republiken, Gebieten und Regionen der UdSSR aufmunternd zugerufen. Knapp anderthalb Jahre später, die Sowjetunion war gerade beerdigt worden, da dämmerte es dem russischen Staatschef: Möglicherweise könnte auch sein Haus bald anfangen zu bröckeln.
Am 31. März 1992 unterzeichnete Moskau mit 18 Republiken – Tatarstan und Tschetschenien-Inguschetien verweigerten ihre Unterschrift – einen Föderationsvertrag. Darin wurden den nunmehr „souveränen Republiken innerhalb der russischen Föderation“ unter anderem die alleinige Verfügungsgewalt über Grund und Boden sowie die natürlichen Ressourcen übertragen. Außerdem erhielten sie den Zugriff auf Budget und Steuern sowie das Recht, Wirtschaftsbeziehungen mit den Ausland zu unterhalten.
In der Folgezeit fuhren sich die Verhandlungen zwischen Zentrum und Peripherie zunächst einmal fest. Im Mai 1993 preschte Jelzins Heimatregion Swerdlowsk unter dem Gouverneur Eduard Rossel vor und erklärte sich zum Staat. Andere Gebiete zogen nach, nahmen eigene Verfassungen an und werteten sich zu „Republiken innerhalb der Föderation“ auf. Die Lage spitzte sich noch zu, als sich 30 Gebiete und Regionen weigerten, für das laufende Jahr Steuern an Moskau zu zahlen.
Im Dezember 1993 wurde die neue russische Verfassung durch eine Volksabstimmung angenommen. Tschetschenien und Tatarstan hatten es abgelehnt, an der Abstimmung überhaupt teilzunehmen. Mit ein Grund für den Boykott: Anstatt Klarheit in den Kompetenzwirrwarr zwischen Zentrum und „Föderationssubjekten“ zu bringen, verwässert die Verfassung bereits bestehende Bestimmungen. So sind die Republiken nicht mehr ausdrücklich souverän, für die Nutzung von Grund und Boden sowie natürlichen Ressourcen sind Föderation und Subjekte gemeinsam zuständig.
Im Februar 1994 entschloß sich Moskau zum Handeln. Ergebnis: Ein bilateraler Vertrag mit der Republik Tatarstan, der die Bestimmungen des Föderationsvertrages bekräftigt und darüber hinaus der aufmüpfigen Republik weitgehende Vollmachten einräumt. Zwölf Kooperationsabkommen regeln darüber hinaus die Aufteilung von Kompetenzen in so zentralen Bereichen wie Wirtschaft, Produktion und Transport von Öl, Umwelt und Bildung. Jelzin lobte die Übereinkunft, dämpfte aber Erwartungen anderer Interessenten: Der Vertrag sei kein Vorbild für andere Abkommen.
Das sahen die Regionen und Gebiete anders und machten Druck. Am 12. Januar 1996 wurde ein Vertrag mit Swerdlowsk besiegelt, ähnliche Abkommen mit den Gebieten Orenburg, Kaliningrad und der Region Krasnodar folgten.
Die jähe Beflissenheit Moskaus war durch die politische Großwetterlage motiviert. Bei den Duma- Wahlen knapp einen Monat zuvor waren die Kommunisten stärkste Fraktion geworden. Jelzin mußte befürchten, bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen zu unterliegen. Deshalb war es kein Zufall, daß die Verträge ausschließlich mit solchen Regionen abgeschlossen wurden, die nicht dem „roten Gürtel“ angehören.
Die bilateralen Verträge stießen nicht bei allen Seiten auf Zustimmung. Durch die Verträge würden die Rechte der Föderationssubjekte beschnitten, befand der Gouverneur von Primorski, Juri Nasdratenko. Der russische Außenminister Jewgeni Primakow vermochte den Wirtschaftsabkommen der Gebiete und Regionen mit dem Ausland nichts Positives abzugewinnen. Dadurch würde sein Ministerium an den Rand gedrängt, meuterte Primakow.
Äußerst nebulös sind die Finanzbeziehungen zwischen dem Zentrum und den Föderationssubjekten. Versuche Moskaus, bestimmte Steuern den unterschiedlichen Ebenen zuzuteilen, scheiterten am Widerstand der Regionen und Gebiete. Ein Subventionsgesetz wurde 1992 verabschiedet, trat aber nie in Kraft.
Auch die Unterstützung sogenannter „hilfsbedürftiger Regionen und Gebiete“ treibt bisweilen seltsame Blüten. Während die Region Tjumen als größter Ölproduzent horrende Summen nach Moskau ohne Gegenleistung überwies, erhielt die Republik Komi, die bei der Ölproduktion an vierter Stelle liegt, die höchsten Zuwendungen.
Alles in allem hat der Prozeß der russischen Föderation ein gewisses Maß an Stabilität beschert. Wäre da nicht Tschetschenien. Der dortige Krieg hat Zehntausende Menschen das Leben gekostet. Hätte Jelzin ein oder zwei Jahre früher seine Truppen in den Kaukasus geschickt, hätte es mehrere Tschetschenien gegeben, bemerkte unlängst der dagesthanische Duma- Abgeordnete Ramasan Abdulatipow. Zwar ist das Blutvergießen in der Kaukasusrepublik zunächst einmal gestoppt. Doch der Status Tschetscheniens ist immer noch ungeklärt. Barbara Oertel
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