: Wenn die Wunder enden
Oktober in Lourdes: Die Heilsuchenden verlassen den Ort in den französischen Pyrenäen, die heiligen Stätten werden geschrubbt ■ Von Kai Horstmeier
Wenn der heiligen Jungfrau von Lourdes im Herbst die Wunder ausgehen, fängt Monsieur Joubert mit dem Rechnen an. Der schmächtige 52jährige sitzt dann in seinem Büro im hinteren Teil des Bahnhofs und wühlt sich durch die Zahlenberge: „600 Pilgerzüge hatten wir dieses Jahr“, findet er heraus, „240 aus Frankreich, 215 kamen aus Italien, 32 aus Deutschland.“ Und dann zählt Monsieur Joubert die 400.000 Menschen, die in diesem Jahr durch die Bahnhofshallen getrampelt, gerollt oder manchmal getragen worden sind. Aber Ende Oktober wird es ruhig auf den Bahnsteigen des kleinen Bahnhofs von Lourdes. Keine Kranken mehr, keine Frommen, keine Heilsuchenden – Ende der Saison.
Ein Wunder wollen die Pilger miterleben – fünfeinhalb Millionen Reisende in Sachen Religion waren es im letzten Jahr – oder wenigstens mit eigenen Augen sehen, was der Bernadette Soubirous 1858 in der Lourdaiser Grotte Massabielle widerfahren ist. Die heilige Jungfrau, die „Unbefleckte Empfängnis“ höchstpersönlich, war der damals Vierzehnjährigen erschienen – bis heute hat sie ihre Spuren hinterlassen.
Seit vier Jahren ist Gerard Joubert für das Wohlergehen derjenigen zuständig, die per Bahn nach Lourdes kommen. Jetzt hat er ein wenig Zeit. Joubert, goldene Brille, schmales Gesicht, zeigt uns seinen Bahnhof: die Ankunftshalle für die Kranken, Hunderte blauer Rollstühle stehen hier und warten still auf menschliche Fracht, die Gleise für die Züge mit den Kranken, die blauen Busse, die sie zu den Hospitälern fahren.
Auf Bahnsteig 1 singt vollmundig eine italienische Pilgergruppe das „Ave Maria“. Abschied von der heiligen Stadt. Das Lächeln der heiligen Jungfrau hat sich in die Gesichter eingegraben. Weiße Papiertaschentücher winken aus den dunklen Fenstern des anfahrenden „Treno Bianco“, des weißen Pilgerzuges. Und da, ganz hinten, die hochgewachsene Ordensfrau: Selig nimmt sie ihr Stückchen Erinnerung an die heilige Jungfrau mit nach Hause.
Nein, viele Beschwerden bekomme er nicht, sagt Joubert, als der „Treno Bianco“ langsam in den Alltag zurückrollt. Bloß wenn Schmutz in den Hotelbetten oder auf dem Boden lag oder die Dusche nicht funktionierte. Dann ließen manche ihre Wut bei ihm zurück. Aber Lourdes ist ein sauberes Städtchen, und Ärger gibt es selten. An einem sonnigen Oktobertag um halb fünf vertraut Monsieur Joubert uns dennoch ein Geheimnis an: „Viele sterben in Lourdes, wenn sie die Grotte gesehen haben.“ Statistiken darüber hat er nicht, auch die Grabsteine auf dem Friedhof schweigen zu dem Schicksal derjenigen, die ihr Leben an der Grotte Massabielle am Ziel glaubten und es der heiligen Jungfrau überließen.
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Ein Häufchen von gut 200 Gläubigen hat sich im Regen auf dem großen Platz vor der Rosenkranzkirche versammelt, der unteren der drei übereinander gebauten Basiliken. Mitten im Städtchen, zwischen Kitschläden und Cafés, liegt der Ort der Marien-Erscheinung. Das Heiligtum. „Le Sanctuaire“, wie die Franzosen das Gelände nennen. „Le Sanctuaire“, das ist der Beweis der existierenden Göttlichkeit. Aber bei Regen haben es die Götter schwer – das Häufchen läßt keinen Vergleich zu mit den Tausenden, die sonst am Abend hier beten und Maria ihr Lichtlein darbringen. Es raunt und murmelt, Regenschirme werden aufgespannt, letzte Anweisungen des Chorleiters. Hektik. Wer rechtzeitig hier war, hat einen geschützten Platz ergattert. Alle anderen müssen im Regen stehen. Zischend fordern die Priester zu Ruhe und Ordnung auf. Aber gegen das Prasseln des Regens haben die Kirchenmänner keine Chance. Engelsgesichtig, die kleine Polin. Für ihre Landsleute betet sie. Französich, englisch, spanisch, italienisch, deutsch drängen die Stimmen durch den Regen, polnisch, wenn Engelsgesicht vors Mikro tritt: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Unter den Schirmen wandert Feuer von Kerze zu Kerze. Das „Große Lourdes-Lied“, das „Ave Maria“, ist auf die schützenden Papiertrichter gedruckt. Sie sollen vor Wind schützen. Vier Francs, eine Mark und dreißig, kosten sie im „L'Ermitage“. Bei Regen kleben die Papiertrichter an den Kerzen und die Flammen gehen aus. Bei Regen ist die Messe etwas früher zu Ende.
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Der Geist bleibt nicht klar in Lourdes. Die „Stadt der kleinen Leute“, wie Kurt Tucholsky den Ort nannte, verlangt dem Pilger ein religiöses Nonstop-Programm ab. Beten, Beichten, Büßen ohne Pause – keine Zeit für Besinnlichkeit. Der Tagesablauf ist vorgeschrieben, von der ersten Messe um halb acht am Morgen bis zur Lichterprozession um kurz vor neun am Abend. Als Tucholsky in den zwanziger Jahren durch die Gassen der Stadt spazierte, fiel ihm auf: „Es riecht nach Muff, nach unaufgeräumten Schlafzimmern, nach jenem Typus, der in Europa nicht leben und nicht sterben kann, nach kleinem Mittelstand, der nicht weiß, daß er's ist.“
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Die 30 Tische des „Café Royal“ stehen direkt gegenüber dem Eingang zum Heiligtum. Ein exquisiter Platz, Umsatz wird hier im Sommer gemacht. Aber jetzt haben sich nur acht Leutchen hierher verirrt. Macht ohnehin in zwei Tagen zu, das „Royal“. „Was soll ich denn im Winter hier?“ fragt sich Christian Vandenbossche, „da gibt's doch keine Arbeit mehr.“ Er jedenfalls gehe dann in die Berge – zu den Skifahrern. Seit 23 Jahren arbeitet der 43jährige als Kellner im „Royal“. Jeden Winter verdient er sein Geld in den Pyrenäen. Aber wenn es wieder losgeht in Lourdes, kommt Vandenbossche zurück und versorgt die unzähligen Pilgermäuler mit Milchkaffee, Calvados und Hamburgern. Immer das gleiche. Jedes Jahr. Im Oktober lassen die Kitschhändler die Jalousien runter, die Cafés schließen und in den Hotels werden die Türen verrammelt. Im April geht alles wieder los.
Drittgrößte Hotelstadt Frankreichs ist Lourdes mit seinen 16.000 Fremdenzimmern. Die fünfeinhalb Millionen Pilger wollen essen, trinken, schlafen. Wohl deshalb präsentiert sich der Stolz der Stadt im Rathaus so: Neben dem Eingang des kleinen (aber weltlichen) Gebäudes hängt ein riesiges Wandgemälde – die Marienerscheinung der Bernadette. „Natürlich sind die Pilger wichtig für die lokale Wirtschaft“, sagt Jean Vergés, zuständig für die Finanzen in der Gemeinde. Ein Übel nur, daß am Ende der Saison viele ohne Arbeit dastehen. Doch in Lourdes ist längst das geschehen, was die aufgeklärten Franzosen seit ihrer Revolution fürchten wie der Teufel das Weihwasser: der profitable Schulterschluß zwischen den Mächtigen in Kirche und Politik.
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Einmal, erzählt Pater Wolfgang Boemer aus Deutschland, ja, einmal, da habe ihn ein Ordensbruder aus den USA besucht. „Gibt es ein Buch über den Mann, der das hier aufgebaut hat?“ habe der Amerikaner ihn gefragt. Das sei doch eine geniale Idee gewesen mit der Wallfahrtsstätte. Boemer lacht: „Er dachte, daß jemand die Idee hatte, eine Firma gründete und auf Promotion-Tour ging, um sie zu verkaufen.“
Pater Boemer vom Orden der „Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria“ ist seit 1992 „Koordinator für die deutsche Sprache“ in Lourdes. „Keine müde Mark hat Rom für das Wunder ausgegeben“, weiß er, „damals nicht und heute nicht.“ Alles würden die Pilger selbst bezahlen; mit Spenden und dem Kauf von Büchern und Kerzen. Und dann rasselt die Rechenmaschine: Rund hunderttausend Mark koste der Unterhalt des Heiligtums pro Tag, zwischen 35 und 40 Millionen im Jahr. Macht im Schnitt gut sieben Mark pro Pilger. Verbürgen für diese Zahlen will sich Boemer nicht. Außerdem ist der Pater für das Seelenheil seiner Klientel zuständig und nicht fürs Geld. Von angeblich sechstausend Krankenheilungen seit 1858 hat die Kirche lediglich 65 als Wunder anerkannt. Das wiederum ist nicht verwunderlich, da bekanntermaßen bei einer Inflation zwangsweise der Geldwert sinkt.
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Das „Florida“ liegt in der Rue de la Reine Astrid. An der zugedeckten Theke der Hotelrezeption kichert noch das Personal. Die Stühle haben sie schon hochgestellt, Decken über die Einrichtung gelegt, damit die Möbel nicht verstauben bis zum nächsten Jahr. Die Fensterläden haben sie geschlossen, und gleich wird Hausmeister Jean Yves die Eingangstür verriegeln.
Um die Ecke, im „Golgatha“, riecht es nach Seife und Essensresten. Mit langen grünen Schläuchen spritzen die Angestellten den Boden in der Großküche ab, das Feuer in den Öfen ist längst ausgegangen. Lourdes verabschiedet sich mit Putz- und Desinfektionsmitteln von seinen Gästen.
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