Frau Hiller

Ein Leben in Metamorphose

Mein Freund Wolfgang ist Bildhauer und arbeitet einmal wöchentlich mit rheumakranken alten Frauen, die durch Modellieren, in Ton oder Stein, ihre Sehnen, Muskeln und Gelenke trainieren möchten. Mit der Begabtesten seiner Gruppe machte er mich vor einiger Zeit bekannt.

Frau Hiller, 1898 geboren, empfängt uns an einem Sonntag Nachmittag. Sie lebt im Haus ihrer Tochter, wo man ihr, als sie zu alt wurde, um alleine wohnen zu können, eine Mansarde mit eigener Küche und Bad eingerichtet hat. Die Begrüßung ist herzlich. Frau Hiller umfängt mit ihren beiden rheumatisch verkrümmten Händen lange meine Rechte, und ich spüre die greisenhaft kühlen und überaus zarten Polster ihrer Handinnenflächen. Dabei sieht sie mich forschend durch die getönten, starken Gläser ihrer modischen Brille an und sagt: „Sie wollen also etwas über mich schreiben, mal sehen, ob mir alles einfällt.“ Beim Vorneigen des Kopfes pendeln ihre silbernen Ohrgehänge hin und her, berühren fast die Schultern. Das schwarze lange Kleid mit den Spitzeneinsätzen an Schultern und Dekolleté, dem schmalen straßbesetzten Gürtel, wirkt, zusammen mit der korrekt frisierten Lockenperücke, geradezu festlich. Ringsum in den Regalen der Schrankwand stehen eigene Werke. Kleine Figuren, Gefäße und schöne Reliefs, die das kunstgewerblich Niedliche weit hinter sich gelassen haben und in einer unbefangenen Bildwelt abseits von langweiliger Könnerschaft ihr Eigenleben führen. Auf der rotglänzenden Tagesdecke des großen Bettes staffeln sich seidenbezogene Zierkissen, deren Blütenpracht Frau Hiller selbst gemalt hat. „Seidenmalerei mache ich heute nicht mehr“, sagt sie und lädt uns ein, Platz zu nehmen am Couchtischchen, zu Kaffee und Kuchen.

„Frau Hiller,“ ruft Wolfgang in Schwerhörigenlautstärke, „bitte zeigen Sie uns doch erst mal Ihr Pflanzenbuch, bevor Sie uns Ihr Leben erzählen.“ Sie hat es schon bereitgelegt und reicht uns mit gespielter Verlegenheit ein dickes, großformatiges, leinengebundenes Buch. „Sie haben ja unten den Garten gesehen, den habe ich mit angelegt. Blumen sind mein Liebstes“, erklärt sie und fährt fort: „Früher in der DDR, da hatte ich einen Freund gehabt, der besaß auch einen Steingarten und brachte mir immer Pflanzen, die ich noch nicht hatte und er bekam dafür von mir welche. Doch als seine Frau gestorben war, da hatte er ganz plötzlich überhaupt kein Interesse mehr an seinem Steingarten, vorher war er unentwegt damit beschäftigt. Damals hat er mir viele seiner Pflanzen überlassen und auch dieses Buch – leer – ich weiß nicht, woher er es hatte.“ Am oberen Rand mancher Seiten steht aufgedruckt „Motorenfabriken“ und „Fortschritte im Dampfmaschinenbau“ oder „Neue Apparate für die Zuckerfabrikation“. „Das war alles weißes Papier“, erklärt Frau Hiller, „er hat es gesammelt und dann binden lassen und ich habe dann – denn ich wollte ja nichts verderben von dem schönen Papier – versucht, ganz vorsichtig rein zu malen, mit Wasserfarben, meine Blumen. Und tatsächlich, es ging besser, als ich dachte. Alle vier bis fünf Tage malte ich ein neues Bild. Viele Blumen hatte ich in meinem eigenen Garten – da war ein kleines Gewächshaus, das man im Winter heizen mußte, das war voller Blumen – bei allen anderen steht dann immer dabei ,Botanischer Garten‘“.

Das Buch hat ein mit rotem Kugelschreiber in Schönschrift verfaßtes Vorwort, voller Erläuterungen über die abgebildeten Pflanzen. Es ist gegliedert in zwei Abteilungen: Gewächshauspflanzen und Pflanzen im Freien. Zusätzlich sind Blumen zu sehen, auch Blumen in Vasen und zwei Bilder zum Ausklappen, die eine Art Gewächshauspanorama zeigen. Des weiteren gibt es ein alphabetisch geordnetes Sachregister mit den lateinischen, deutschen und gärtnerisch-umgangssprachlichen Bezeichnungen, wobei der Anfangsbuchstabe jeder neuen Pflanzenbeschreibung mit rotem Kugelschreiber hervorgehoben wurde. Die Seiten selbst sind handnummeriert. Rechts ist jeweils das gemalte Bild, jedes akribisch datiert und signiert, links finden sich die knappen Erläuterungen über Herkunft, Haltungsbedingungen, Lieblingsstandorte, Art und Häufigkeit der Düngung, Zeiten der Blüte, Art der Vermehrung. In einer Art Beigabe sind auf einigen wenigen Blättern auch farbenprächtige Schmetterlinge neben die Blüten gemalt. Das erste datierte Bild ist von Mai 68, das letzte vom Herbst 1970.

Während wir blättern, zerknüllt Frau Hiller ihr Taschentuch nervös im Schoß, sie betupft sich alle paar Minuten die Lippen und sagt dann: „Die Gärtner vom Botanischen Garten und von überall, die kannten mich, auch die Leute vom Museum, die haben mich alle gekannt, ich habe gemalt und gemalt, und wenn ich was nicht wußte, dann habe ich gefragt.“ Sie deutet erregt auf die gerade aufgeschlagene Seite: „Wissen Sie, was das ist? Das ist die ,Welwitschia mirabilis‘, diese Pflanze wächst in Namibia in der Wüste. Sie ist wunderbar, sie wächst immer weiter und weiter, aber neue Triebe, die kennt sie nicht. Sie hat zeitlebens nur zwei Blätter, die im Alter meterlang sind und wie Leder, und das Schönste, die meterdicke Wurzel, kann Dutzende von Metern in die Tiefe hinunterwachsen und sich dort ihr Wasser holen. Die wird über hundert Jahre alt ... wie ich.“ Frau Hiller kichert.

Trotz meiner rudimentären botanischen Kenntnisse fällt mir auf, daß die sexuelle Seite der Pflanzenwelt in den Beschreibungen so gut wie gar nicht vorkommt. Ich erinnere mich an Stempel, Staubgefäße, zwei- und eingeschlechtliche Pflanzen, hier aber steht stereotyp: „Vermehrung durch Ableger.“ Ich frage nach. „Männlich, weiblich“, ruft Frau Hiller aus, „davon hatte ich damals doch keinerlei Ahnung gehabt und so mir auch gar keine Gedanken darüber gemacht ... über ihre Vermehrung und all das ... ich habe aufgeschrieben, was ich wußte. Heute weiß ich mehr, zum Beispiel, daß die Welwetschia nur eingeschlechtliche Blüten treibt, und für ihre Befruchtung ist es notwendig, daß ... also eine Pflanze des anderen Geschlechts in ihrer Nähe steht, zur Bestäubung. Aber sonst fehlt ja nichts in der Beschreibung.“ Wir blättern Seite für Seite um. Ab Herbst 1969 liegen plötzlich zart gemalte abgestorbene Blätter unter den Pflanzen. Ganz besonders liebevoll und sorgfältig wurden Pinsel und Deckfarben beim Malen der „Sinnpflanze“ verwendet. Sogar die zahlreichen Überschneidungen der gefiederten Blättchen, die Sicht auf ihre Wölbung und das Kreuz und Quer der Zweige ist perspektivisch richtig. „Mimosa pudica. Trop.Amerika.“ steht in sauberen Blockbuchstaben unter dem Bild. Diese strauchartige Pflanze hat gefiederte Blätter, deren Fiederchen bei der zartesten Berührung nach aufwärts hin ausweichen. Wird die Berührung stärker, falten sich die Fiederchen aneinander und wenn der Reiz anhält, senken sie ihre gefalteten Fiederblätter, wie vertrocknend. Und zuletzt sinken sogar die Stiele hinab. Nach einigen Minuten Ruhe hebt und öffnet sich alles wieder zuversichtlich. Vor vielen Jahren habe ich im Botanischen Garten in einem kleinen, menschenleeren Gewächshaus ein solches Mimöschen sadistisch gequält. Das war mir ganz entfallen.

„Ich hatte ein großes Grundstück gehabt in Finkenkrug, 3.300 Quadratmeter“, berichtet Frau Hiller stolz, „das hat für mich damals mein Bruder gekauft, also in meinem Auftrag und von meinem Geld, das ich ihm immer aus Schweden geschickt habe. Ich war nämlich in Schweden nach dem 1. Weltkrieg, in großen Hotelküchen habe ich da gearbeitet, denn meine zweite Leidenschaft, die war das Kochen! Eigentlich wollte ich ja immer nach Frankreich, wegen der Französischen Küche, und auch sonst, denn wenn man was werden wollte, mußte man in Frankreich gewesen sein. Ich war zwar in Frankreich, aber leider nicht zum Kochen. Und man wollte natürlich keine Deutschen in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. Also ging ich nach Schweden“, sie lacht, „die haben uns Deutsche erst nach dem 2. Weltkrieg gehaßt. Dort blieb ich fünf Jahre lang ... Aber ich fange wohl doch lieber nicht mittendrin, sondern mehr von vorne an, was? Sie haben doch etwas Zeit mitgebracht? Also ich hatte ja in Thüringen noch eine Lehre angefangen, aber die bestand vor allem im Erledigen von Schmutzarbeiten und Dienstbotengängen, obwohl mein Vater 300 Mark Lehrgeld bezahlt hat. Viele Schläge habe ich auch noch gekriegt, zu allem Überfluß, aus den unterschiedlichsten Gründen. Gründe waren immer da! Einmal hat man mich erwischt, wie ich die schönen Kleider von den Töchtern meines Patrons heimlich angezogen habe. Die Schränke waren auf der Diele, da bin ich nachts rausgeschlichen und habe mir ein Kleid geholt und es angezogen. Das ging ein paarmal gut, doch dann hat der Patron mich entdeckt und es gab Ärger. Dresche habe ich bezogen. Aber das

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war ich ja gewöhnt von zu Hause her. Wir Kinder haben schon vorher so viel Dresche bezogen zu Hause, das geht auf keine Kuhhaut! Wir waren zwei Brüder und zwei Schwestern. Mein Vater war Seifensiedermeister und ein strenger Mann. Geschlagen hat uns aber die Stiefmutter – die richtige Mutter ist sehr früh gestorben – und diese neue Frau unseres Vaters, die war richtig böse und brutal. Sie hatte einen innerlichen Haß irgendwie, so wie sie uns mißhandelt hat. Mir hat sie die Nase zerschlagen, den Arm gebrochen und viele, viele Haare ausgerissen, meinen Geschwistern ging es nicht besser.

Die gingen von zu Hause weg und sind in die Dienste fremder Menschen eingetreten, nur damit sie weg waren. Und als ich dann endlich in die Lehre kam, da war ich überglücklich, aber das währte nicht lange. Nach der Kleidergeschichte hat man nur noch mit Fingern auf mich gezeigt. Ich habe mich natürlich auch sehr über mich gewundert, denn andere junge Männer meines Alters hatten das nicht, diese Freude an Kleidern, ja das war richtig eine Gier auf Kleider. Das war schlimm. Ich hatte immer eine richtiggehende Wut auf mich selbst gehabt, daß ich so eine Art habe, aber das nutzte auch nichts. Dort bin ich dann weg und nach einer Weile ging ich nach Berlin. Zum ersten Mal in einer Großstadt! Ich war begeistert und habe mich nach einer Weile auch ganz gut zurechtgefunden. Ich kam nach dem Restaurant Dressel, Unter den Linden war das, und dort haben sie dann ganz schnell gemerkt, daß ich überhaupt nichts konnte, nichts! Aber mir hatten sie ja nur die Drecksarbeit aufgebürdet und sonst nichts. Eine Zeit bin ich dort geblieben und habe gelernt. Dann kam ich noch nach dem Hotel Adlon, da war schon der Krieg ausgebrochen, ja, und von dort aus bin ich dann eingezogen worden, zu den Soldaten. Ich war noch nicht ganz achtzehn Jahre alt. Ich kam runter nach Mühlhausen. Dort war der Krieg, aber wir haben nichts davon gemerkt. Zuerst war ich in der Küche, dann kam ich zur Infanterie und wurde ausgebildet an einem Maschinengewehr, in einer Maschinengewehrabteilung. Eines Tages, das weiß ich noch genau, kam der Feldwebel und befahl mir: ,Hiller, raustreten! Sie können mir mal einen Strauß Blumen pflücken.‘ Das hat mich natürlich sehr gefreut. Dann kam ich an die Front, nach Rußland ... eh, nee ... das war noch Österreich damals, oder: Lemberg hieß die Stadt, in Ostgalizien. Dort war eine finstere Gegend, man hat mir zuerst mal meine Stiefel geklaut, aber ich konnte mir Ersatz beschaffen. Dort haben wir überwintert, ich in der Feldküche. Es fiel kaum ein Schuß. Im nächsten Frühjahr verlegten sie uns nach Frankreich, zur Frühjahrsoffensive, in die Nähe von La Fère. Ich hatte Glück, viele wurden totgeschossen, einem Kameraden hat es die Hand abgerissen. Die Front lag vorne, immer vorne, da wurde gekämpft, und wir kamen immer hinterher mit der Feldküche. Und unentwegt wurde geschossen. Wir sind durch zerstörte Dörfer gekommen, da waren nur noch Ruinen. Und viele tote Franzosen habe ich liegen sehen, in ihrem Blut und tote Pferde. Es war kein schöner Anblick. Trotzdem, ich war an und für sich gerne Soldat und als der Krieg zu Ende war und ich nach Berlin zurückgekommen bin und keine Arbeit fand, da bin ich hin und habe mich gemeldet, beim ,Minenwerfer Sturm-Détachement-Heuschkel‘, das war ein Freikorps gewesen. Sie haben geworben und ich hatte Essen, Arbeit und Unterkunft ... Und außerdem, ich war ja immer königstreu, das bin ich bis heute geblieben! Ja, und wir sollten also den Aufruhr bekämpfen in Berlin, den die Aufständischen und Spartakisten gemacht haben, mit Barrikadenkämpfen und Überfällen, wir sollten die Ordnung im Reich wiederherstellen. Es ging immer hin und her, hin und her, mal wurden wir am Alexanderplatz beschossen, mal anderswo. Ich wurde befördert und eine Fotografie von mir, in Uniform, wurde sogar ausgestellt, aber ich hatte genug vom Soldatenleben, das dauernde Hin und Her gefiel mir nicht und ich wollte auch nicht als Krüppel enden, deshalb habe ich um meine Entlassung angesucht.

1919 wurde ich entlassen als Unteroffizier. Ich suchte Arbeit und fand Arbeit. Alles Erdenkliche habe ich gemacht, als Tagelöhner im U-Bahnbau Friedrichstraße, dann habe ich Adressen geschrieben in einem Büro, man hat mich genommen wegen meiner schönen Handschrift, der Verband der Köche vermittelte mir eine Arbeit in der Stadtküche. Dort wurden vorwiegend Rollmöpse gemacht und jeden Mittag haben wir mit Herr und Frau Inhaber Rollmops gegessen. Das habe ich nicht lange aushalten können, ich wollte weg, nichts als weg. Mit Frankreich, da war ja nichts zu machen, das mußte ich mir aus dem Kopf schlagen, also habe ich kurz entschlossen ein Angebot in Schweden angenommen und telegraphiert: ,Akzeptiere Stellung‘. Mit meinen letzten Ersparnissen, die ich noch hatte, bin ich hingefahren, und als ich ankam, da hatte ich noch ganze 9 Kronen. Bis 1925 war ich dort, und ich habe schönes Geld verdient. Ich weiß noch, an meiner ersten Stelle führte mich der Küchenchef anfangs herum, um mir alles zu zeigen, da hing im Keller unten ein ganzer Bär von der Decke, der sollte wohl Hautgout kriegen. Er hing kopfunter da, ein großer Bär ohne Fell, so was hatte ich noch nicht gesehen. Und in Schweden habe ich mir übrigens Kleider gekauft, endlich konnte ich wieder Kleider anziehen – das war im Krieg ja nicht möglich gewesen – also ich zog sie nachts an, aber nur heimlich, dann habe ich sie wieder versteckt. Unter meiner Kochkleidung trug ich fast immer weibliche Unterwäsche. Schöne Wäsche aus Seide, mit Spitzen und Stickerei, ich habe sogar ein leichtes Korsett getragen bei der Arbeit, obwohl es manchmal in der Küche vierzig Grad und mehr hatte. Niemand hat je etwas bemerkt.

Neben Schwedisch habe ich auch ziemlich viel Französisch gelernt in der Küche, vom Personal. Damals habe ich angefangen zu malen, zuerst habe ich nur Porträts gemacht und verschenkt, auch Klavierspielen habe ich gelernt, denn meistens gab es irgendwo in einem der Räume ein Klavier. Das war eine schöne Zeit in Schweden. 1925 hatte ich dann genug und bin zurückgekehrt nach Berlin, sofort gab es Ärger mit meinem Bruder. Der war eine einzige Enttäuschung für mich! Er hat mich mit dem Grundstück übers Ohr gehauen, das er für mich kaufte. Er hat es nicht auf meinen, sondern auf seinen Namen eintragen lassen. Und ich hatte ihm jeden Monat das Geld geschickt aus Schweden, all die Jahre! In der Inflationszeit habe ich denen sogar Milch, Butter und Fleisch bezahlt, das sollten sie jeden Monat abziehen, damit er und seine Familie was zu essen hatten. Dafür sollte er mir mein Grundstück versorgen, einen Zaun setzten, Bäume pflanzen, nach meinen Plänen. Das hat er zwar alles gemacht, aber für sich selbst und nicht für mich. Ich habe Prozesse führen müssen gegen ihn, und ich habe sie alle gewonnen. Eine längere Zeit war ich wieder arbeitslos und damals hatte ich eine Frau herzlich lieb. Sie war meine Vermieterin, hat sich um mich gekümmert. Aber ich mußte mich zurückhalten, denn sie hatte vorher mit einem Geschlechtskranken Verkehr gehabt. So ist nichts daraus geworden. Vor der Ehe mit meiner Frau, da war ich sozusagen jungfräulich ... Außer vielleicht ... an der Friedrichstraße, ja, da kam mal eine ... eine Nutte, aber sonst nicht.“

Frau Hiller kichert verschämt in ihre Handfläche, tupft sich die Lippen und Mundwinkel, hustet ein wenig und fährt fort zu erzählen: „Nach einem Jahr hatte ich dann wieder Arbeit in verschiedenen Stellungen, ich war inzwischen aufgestiegen zum Chef de Partie in der Küche, Saucier war ich und das ist immer gleichzeitig auch die Vertretung des Küchenchefs. Ich war also der zweite Mann in der Küche, aber die Freude währte nicht lange. Zuletzt war ich in der Küche der Diskonto Bank, die ging nach dem ,Schwarzen Freitag‘ im Herbst damals aber schnell pleite und so kam ich in die Küche der Dresdner Bank. Dort gab es keinen Küchenchef, sondern nur so eine Art Schlachter, der das Fleisch zuschnitt, und dann eben die Köche. Da war ich dann sozusagen der Chef von denen. Aber die Köche waren alle Kommunisten, bis auf einen, der war Nazi, aber der hat mir genausowenig gefallen. Es gab nur Unfrieden. Da bin ich dann weggegangen und habe versucht, mich selbständig zu machen mit einem Restaurant in der Marburger Straße. Gleich hinter dem Tauentzien liegt die. Das war eine gute Gegend, nahe an Zoo und Kurfürstendamm, aber es war die falsche Zeit. In diesem Restaurant verkehrten viele Juden, das waren Schauspieler, das waren Künstler, Schriftsteller, und sie waren anspruchsvoll! Sie wollten dies, sie wollten jenes und den ganzen Tag saßen sie da bei einem Mineralwasser und debattierten. Die meisten waren arbeitslos und natürlich hungrig, immer hungrig. Sie wollten essen und später zahlen. Ich habe gekocht und angeschrieben und selten Geld gesehen, und die Nazis haben mir jeden Tag dann auch zwei Mann geschickt, die sollte ich freiwillig verköstigen. Gelebt habe ich in der Zeit von der Laufkundschaft und meinem Ersparten, denn ich mußte ja meine Ware beim Einkaufen gleich bezahlen, mein Feuerholz, mein Elektrisch, die Pacht, das Personal.

Das ging so ein Jahr gut, dann habe ich meine Zähne verloren vor Erschöpfung. Täglich stand ich von 9 Uhr morgens bis 3 Uhr nachts in meinem Restaurant. Aber ich wollte ja auch, denn es war ein schönes Gefühl, von den Gästen geschätzt zu werden für eine gute Küche und eine kultivierte Atmosphäre, auch wenn sie nicht immer ihre Rechnungen beglichen. Ich habe dann doch aufgegeben und war drei Jahre arbeitslos. Dann hatte ich genug davon und habe mich 1933 umschulen lassen zum Fräser, denn Fräser waren gesucht. Danach kam ich nach Siemens raus, in die Eisenbahnsignalwerke. Dort hat man mir schwere Arbeit gegeben, aber im Lauf der Jahre habe ich mich daran gewöhnt. Auch mal leichtere Arbeiten hatte ich zwischendurch, Glasarbeiten oder auch als Sanitäter – wo ich eine Ausbildung gemacht hatte zum Werkschutz – darin habe ich sogar andere dann ausgebildet ... Also mhm ... jetzt habe ich die Ehe ganz vergessen, die wollten Sie wohl auch wissen, ja? Na, das müssen Sie dann irgendwie zwischenstecken! Also kurz, ich hatte ein Haus gebaut, eine Hypothek aufgenommen und dann war alles bereit für eine Ehe. Ich habe eine Zeitungsannonce gesehen und mich darauf gemeldet. Da bin ich dann hin, nach Staaken, dort zeigte mir der Vater seine Tochter. Sie war wohl irgendwie nett, schon, aber ich hatte an sich kein großes Interesse. Später dann in der Ehe hat sich das geändert, durch die gemeinsamen Interessen, die wir hatten am Garten, am Haus usw.

Geheiratet habe ich sie in der Zeit, in der ich arbeitslos war ... also wann das jetzt war, kann ich momentan nicht genau sagen ... irgendwo habe ich die Papiere ... Jedenfalls ist die Tochter 1931 geboren, das Dorchen – bei dem ich hier heute meine alten Tage verlebe – und später, wie der Krieg zu Ende war, haben wir ja noch die Hannelore angenommen, ein verwaistes Flüchtlingskind, aber der Reihenfolge nach: Ich war also bei Siemens, die Frau war zu Hause. Während des Krieges ist das Dorchen dann verlagert worden in die Tschechei, damit sie nicht umkam bei den Angriffen auf Siemensstadt. Ich wurde nicht eingezogen, sondern war u.k. gestellt, Soldat an der Heimatfront. Ich hatte kriegswichtige Arbeit, stand an meiner Maschine und machte Eisenbahnsignale, immer nur Signale. Später, so um 1941 oder 1942, kamen zwei Franzosen, ein Belgier, ein Holländer und ein paar Russen als Zivilgefangene, die haben bei uns gearbeitet. Mit denen habe ich ein bißchen Französisch gesprochen und sie in die Arbeit eingewiesen. Und die anderen sagten: ,Was, du redest mit denen Französisch? Was ist denn das, das sind doch Gefangene!‘ Aber ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. Und nach dem ersten Bombenangriff auf Siemensstadt habe ich mit ihnen tagelang nur Scheiben eingesetzt. Ein halbes Jahr später, bei einem großen Bombenangriff, ist unser Werksgebäude und fast das ganze Firmengelände bis auf die Grundmauern zerstört worden, alles war verbrannt. Ich kam zur Schwesterfirma nach Bruchsal und dorthin wurden auch die Zivilgefangenen mitgenommen, die überlebt hatten. Ich wurde denen zugeteilt und wenn Alarm war, dann mußte ich sie in einen Unterstand bringen, denn in den regulären Luftschutzkeller durften die nicht, der war nur Deutschen vorbehalten. Man ging ein paar Stufen runter und da war nur so ein normaler Raum, aber Angst hatte ich nicht gehabt. Einmal, die Franzosen waren schon dicht vor Bruchsal, aber die Stadt hat sich nicht ergeben, so kamen die Engländer oder Amis, egal wer es war, sie kamen dreimal mit einem Geschwader und haben bombardiert, dabei wurde das Hauptgebäude mehrmals getroffen und ging bis auf den Grund kaputt. Die da im Luftschutzkeller waren kamen alle ums Leben, neunzig Menschen oder mehr, doch ich, mit meinen Gefangenen, in meinem leichten Unterstand, wir waren vollkommen unverletzt geblieben. Das kam alles nur, weil ich ein wenig Französisch sprechen konnte, das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Und dann war der Krieg auch schon verloren für uns im Westen. Nun kehrte wieder etwas Ruhe ein, der Alarm hörte auf und die Arbeit auch. Die Franzosen demontierten das Werk, also die Reste, die noch stehengeblieben waren, da war aber nicht viel zu tun. Ich redete mit den Offizieren Französisch und sie waren sogar, obwohl ich ja ihr Feind war, ganz nett zu mir, denn es hatte sich herumgesprochen, daß ich zu den Zivilgefangenen menschlich gewesen war. In Bruchsal wäre ich gerne geblieben, aber ich hatte ja mein Haus, meinen Garten, meine Frau und alles in Berlin, also bin ich nach Berlin zurück gewandert. Es war ein totales Durcheinander. Der hatte ganz schön gehaust, der Krieg, das habe ich gesehen bei meiner Rückreise. Überall Ruinenstädte und Trümmer und Bombenkrater. In Berlin war zu Hause alles in Ordnung, von Finkenkrug bin ich nach Siemensstadt zu Fuß gelaufen, denn es fuhr ja nichts, und im Büro sagten sie mir: ,Sie können morgen kommen und anfangen mit der Arbeit, wir brauchen jede Hand.‘ Nun wurden wieder Signale gebraucht.“

Fortsetzung folgt