„Erich, wir brauchen Dich!“

■ Mitfühlende Briefe an einen gestürzten Machthaber in Untersuchungshaft

Es ist wie mit einem Liebhaber: Ist der Reiz des Unbekannten verflogen und hat sich der vielversprechende Heißsporn als Schaumschläger entpuppt, erscheint der Ehealltag, dem man entfloh, schließlich als verläßliche Rettungsinsel. Mit der Post, die Erich Honecker in der Untersuchungshaft in Berlin-Moabit erhalten hat, verhält es sich ähnlich. Nach Golf GTI und Marlboro und anschließender Arbeits- und Orientierungslosigkeit wünschen sich viele Ostler den Kapitalismus als Schnupperkurs und den Sozialismus als das kleinere Übel zurück. Und die Mauer drei Meter höher.

Der Kölner PapyRossa Verlag hat aus Tausenden Briefen, Postkarten und Telegrammen, addressiert an den „Hochverehrten Genossen“ und „Lieben Erich“, eine „subjektive Auswahl“ von etwa einhundert Grüßen getroffen. Die im Vorwort angekündigte „einzigartige Fundgrube an authentischen Dokumenten deutscher Befindlichkeiten nach dem Beitritt der DDR zur BRD“ hält, was sie verspricht. Die Person Honecker wird zur „Projektionsfläche für eine breite Palette an Bewußtseinslagen, Stimmungen und Meinungen“.

Auf Droh- und Schmähbriefe wurde bis auf wenige Ausnahmen verzichtet. Weitaus aufschlußreicher als „Du dumme Sau“ sind zweifellos die Sympathiebekundungen von Menschen, die Honeckers Politik durchaus kritisch gegenüberstanden. So gibt ein Mann, die meisten Briefe sind bis auf bekannte Personen der Zeitgeschichte anonymisiert, reumütig zu, daß er Honecker gegenüber „ungerechterweise feindselig eingestellt war“. Erst jetzt habe er begriffen, „wie sorgenfrei und froh wir im sozialistischen Staat gelebt haben – danke.“ Ein anderer Mann kritisiert zwar, daß sich Honecker zu sehr mit dem Politbüro eingeigelt habe. Doch „trotz vieler Unstimmigkeiten“ bietet er Honecker, dem er vorwirft, daß „die DDR noch heute existieren könnte, wenn man auf das Wort der Arbeiter gehört hätte“, ein Dach über dem Kopf an.

Eine „DDR-Bürgerin, wie Honecker sie sich gewünscht hat“, verurteilt das „Schindlunder mit dem Volkseigentum“ und „die vielen kleinen Honeckers“. Doch dem, der dafür verantwortlich zeichnet, wünscht sie „einen geruhsamen Lebensabend“. Gerade der achtzigste Geburtstag des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR stimmte ehemals kritische Geister mehr als nachsichtig. Die Zeit heilt nicht nur alle Wunden, sie kann auch Erinnerungen entstellen.

Das 159 Seiten starke Buch sei all denjenigen empfohlen, für die der Ostler immer noch ein unbekanntes Wesen ist. Auch wenn viele Zuschriften nur schwer nachvollziehbar sind, eines wird ganz deutlich: Der Ostler kommt nicht von einem fremden Stern, sondern aus einem Land, wo das Vertrauen in die Weisheit der Partei und ihres Führers wichtiger waren als das eigene Urteilsvermögen. Barbara Bollwahn

„Erich, wir brauchen Dich!“. Briefe nach Moabit, PapyRossa Verlag, Köln, 159 S., 24,80 DM