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Eine ungeheuerliche Sache

■ Rüdiger Safranski eröffnete die Vortragsreihe über „Das Böse“

Daß das Kantsche „Ding an sich“ an sich ein Ding von gestern ist, ist eine Erkenntnis, die so neu nicht ist. Denn nicht erst seit gestern ist derartig erkenntnistheoretisches Denken relationalen, chaos- und systemtheoretischen Denkweisen gewichen. So mag es ein wenig verwundern, daß eine Vortragsreihe über Das Böse an und für sich gerade im eigentlich doch recht aufgeklärten Literaturhaus stattfindet: Soll es hier, jenseits vom Gut und Böse kritischer Erkenntnis, um die Wiederbelebung eines Mythos gehen?

Als erster Referent der neuen Reihe, die in losen Abständen zunächst mit Florian Rötzer fortgesetzt wird, geleitete der Philosoph und Philosophen-Biograf Rüdiger Safranski das Publikum am Donnerstag im ausverkauften Saal auf einen Spaziergang durch seine Privathistorie des Bösen. Ausgehend von der inzestuösen Mythologie der Antike über Kains Brudermord im Alten Testament, Baudelaires böse Blumen, de Sades Vernichtungs- und Freuds Todestrieb, Hegel, Marx und Nietzsche verfolgte Safranski das Böse als nicht totzukriegende Größe. Erwachsen aus der menschlichen Erkenntnisgabe, sei es die notwendige Kehrseite dieser „Freiheit“, eine „sublime Verbindung von Natur und Vernunft“, die einem „Weltvertrauen widersacherisch“ entgegenstehe. So weit, so gut.

Die Pointe sollte in der Behauptung einer heutigen „Wiederkehr des Bösen“ bestehen: Das böse Böse trete sozusagen bosnienmäßig hinter einer Quasireligiosität postmodern-kausaler Erklärungstheorien hervor und der Zivilisationsprozeß enttarne sich selbst als Böses. Es walten „Kräfte jenseits unserer Verfügungsgewalt“ und das Böse bleibt eine „ungeheuerliche Sache“.

Safranski nun ob dieser Pseudoerkenntnisse eine Art aufgeklärten Esoteriker nennen zu wollen, wäre vielleicht etwas zu böse. Dennoch unterscheidet sich seine Idee des dauerpräsenten, unfaßbaren Bösen nicht sehr von der Universaleinheit, die esoterische Kreise angesichts des Verlusts beständiger Erkenntnisse zwangsimaginieren.

Das Böse also doch als etwas an sich Dingartiges, ein Mythos, der Konjunktur hat? Safranskis Buch über das Böse kommt schon bald. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Christian Schuldt

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