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Stellt sofort die Arbeit ein!

Christoph Schlingensief, der letzte Autorenfilmer, dreht die „120 Tage von Bottrop“: eine „Hommage an den Neuen Deutschen Film“. Ein Drehbericht  ■ von Andreas Becker

Wo ist Schlingensief? Beim Hitler ist er nicht, in der Info-Box auch nicht, auch den japanischen Kaisersaal läßt er nicht per Hand zurückschieben, und Leni Riefenstahl hängt nicht wie angekündigt mit einer Kamera am Baukran. Vom Führerbunker also in die Info-Kiste, zweiter Stock, Touristenabfütterung Sorat. Blick frei auf die „zukünftige Mitte unserer Stadt“ (bah!), und natürlich steht Schlingensief mittendrin im Haupstadt-Kranwald, auf dem Dach des Weinhauses Huth. Der „Skandalregisseur“ (dpa) hat einen Auftrag von ganz oben: „Die haben mir gesagt, du mußt den letzten Neuen Deutschen Film machen.“

Seit Montag also dreht S. die „120 Tage von Bottrop“, logischerweise in Berlin. Film im Film im Film, aufgenommen von drei Kameras. Geld ist nur in kleinen Scheinen angekommen, die Schauspieler verzichten auf Honorare, und der Tonmann ist froh, mit S. arbeiten zu können, denn der sehe völlig anders aus, als er eigentlich sei. Von veranschlagten 190.000 Mark für sechs Drehtage kamen 70.000 Mark aus NRW und vorgestern noch mal 45.000 Mark von der Filmförderung Brandenburg. Auch egal, sagt der „letzte Autorenfilmer“ (S. über S.): „Mach' ich eben zwei Inszenierungen an der Volksbühne, und die Kohle ist da.“

Martin Wuttke steht auf dem Dach des Weinhauses Huth, erfährt, daß Margit Carstensen schwer verunglückt ist und die Komparsen mit dem Hubschrauber abgestürzt sind, kriegt einen Nervenzusammenbruch, greift sich ein Megaphon und singt jesusmäßig ein Halleluja.

Gleichzeitg ist der Daimler- Vorstand auf dem Weg zum Dach. S. hofft auf dessen unfreiwilligen Filmauftritt. Statt der Großkapitalisten aber erscheinen nur deren Schergen vom Wachschutz. Wuttke hält eine Rede an die Nation der Bauarbeiter: „Stellt die Arbeit ein, geht lieber zu euren Familien!“ S., der letzte Widerständler gegen den Hauptstadtwahn, der letzte Rufer in der Betonwüste?

Bei debis – S. sagt lieber: „debil“ – versucht er sechs Szenen in einer Stunde zu drehen. Mittags um zwei wird hektisch eingepackt, und der Minifilmtroß fährt Richtung Prenzlauer Berg, zum Prater. Den Abend zuvor habe man einige Nacktszenen auf der dortigen Freilichtbühne gedreht, bei fünf Grad Außentemperatur. Nackt-, Sex- oder Pornoszenen gibt's natürlich jede Menge, obwohl Bottrop nicht Sodom ist, aber... Der „geniale Dilettant“ (dpa?) Schlingensief, dessen „Terror 2000“ immer noch einer meiner Lieblingsfilme ist, muß Fehler machen. Nicht um daraus zu lernen, sondern um nicht diesen Perfektionsscheiß abzuliefern, „bei dem die Leute nur noch Probleme mit ihrem neuen Kühlschrank oder Auto haben“. An seinem letzten Film haben S. nur die Dreharbeiten gefallen.

In der kurzen Mittagspause im Prater-Restaurant sagt S. den Reportern: „Fassbinder war der letzte, der die Genres darauf abgeklopft hat, ob man irgendwas noch davon benutzen kann. Auf so 'ne ähnliche Art mach' ich's auch. Also wenn ich denke, daß muß 'ne ganz traurige Szene werden – dann, wenn sie anfängt, glaub' ich schon nicht mehr dran. Eigentlich glaub' ich auch nicht mehr an Film und Kino, aber das hat auch schon jemand anders gesagt...“ Um was es denn nun eigentlich gehe, im „letzten Neuen Deutschen Film“? – „Also, Volker Spengler dreht ein Remake von Pasolinis ,120 Tagen‘ als Sci-fi-Abenteuer. Die Dreharbeiten laufen absolut beschissen, und alle warten auf den großen Visconti-Star Helmut Berger, den Spengler mal am Hauptbahnhof von Essen kennengelernt hat.“

Absichtlich beschissen läuft es dann auch im alten DDR-Gartenklo des Praters, wo „Jungstar“ (dpa!) Sophie Rois eine Nase Koks nimmt und zunehmend hysterisch ihren Text runterbrüllt: „Es ist wahr, ich bin die Frau, die du warst. Ich will, daß du mich liebst.“ S. steht hinter der Hauptkamera, wird von ein oder zwei Videokameras beim Filmen gefilmt und schreit die Rois an, sie solle sich endlich zusammenreißen. Der kleinwüchsige Mario Garzana mit Sonnenbrille, Lederjacke und Schnäuzer läuft genau in dem Moment, als Rois endlich spricht, laut klatschend durchs Bild. „Bravo, bravo, bravo!“ schreit Garzana alias Fassbinder. „Ich dreh' durch, ich dreh' echt durch!“ schluchzt Rois, und zum zigstenmal wird die Szene wiederholt. Jedesmal ist alles anders.

Die Reporter stehen in ein Klo gezwängt und halten ihre Mikros in die Luft. Zwischendurch scheint keiner mehr zu wissen, was, besonders bei Rois, nun Spiel ist, was nicht. Dreht sie vielleicht wirklich gerade durch? „Ich will doch nur, daß du mich liebst!“ – „Aber ich liebe dich doch!“ hallt es aus der Kloecke, wo ihre Geliebte mit einer Krone auf dem Kopf und einer Plastik-Kalaschnikow steht. „Aber ich bin nicht lesbisch...“ – „Komm Mario, komm zu mir, renn zu mir, guck in die Kamera!“ ruft Christoph Schlingensief. Dann müssen wir das Klo verlassen.

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