: Die Angst vor der Gewalt
Kindesmißhandlung: Neuer Leitfaden hilft Ärzten beim Balanceakt zwischen Sensibilität und Überreaktion ■ Von Karin Flothmann und Christine Andersen
Fiebrige Augen, ein krächzender Husten, die laufende Rotznase – schon ein erster Blick genügt dem Kinderarzt. Das sieht ganz nach Grippe aus. Der zweite Blick offenbart ganz anderes Leiden: Auf Verlangen des Arztes zieht der Sechsjährige Pullover und T-Shirt aus. Sein Oberkörper ist mit blauen Flecken und Striemen übersät. Ein unmißverständliches Indiz für körperliche Gewalt gegen Kinder.
Ganz so eindeutig sind die Hinweise allerdings nicht immer. „Wir Kinderärzte haben in der Praxis ständig das Gefühl, daß wir Fälle von Gewalt übersehen könnten“, erklärt der Vorsitzende des Berufsverbandes Hamburger Kinderärzte, Michael Zink. Zusammen mit Gesundheitssenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) präsentierte Zink gestern im Rathaus den Hamburger Leitfaden für Kinderarztpraxen, ein bundesweit bisher einmaliges Handbuch, das ÄrztInnen für das Thema Gewalt gegen Kinder sensibilisieren soll. Die 50 Seiten starke Broschüre wird in den nächsten Tagen allen Hamburger Kinderarztpraxen zugeschickt.
Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Innenbehörde 37 Kinder, die jünger als 15 Jahre alt waren, in Hamburg aktenkundige Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung. ExpertInnen rechnen damit, daß die Dunkelziffer fünf- bis fünfzigmal höher liegt. Bundesweit werden jährlich rund 2.000 Fälle schwerer Kindesmißhandlung erfaßt, rund 200 davon enden tödlich.
Körperliche Gewalt, so weiß Kinderarzt Zink, ist in der Regel ein schichtenspezifisches Problem. Schlechte Wohnverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit oder fehlende Zukunftsperspektiven überfordern die Eltern und lassen sie zuschlagen. Sexuelle Gewalt oder seelische Grausamkeit kommen hingegen auch in den „besten Familien“ vor. Symptome wie Daumenlutschen, auffällige Aggressivität oder Schüchternheit können, so der Leitfaden, auf Gewalt hinweisen – sie müssen es aber nicht. KinderärztInnen werden eindringlich vor blindem Aktionismus gewarnt, wenn sie Gewalt vermuten.
Sollte sich der Verdacht erhärten, so wird die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, wie dem Kinderschutzbund oder den Sozialen Diensten, empfohlen. Der Weg zu Gericht oder Polizei könne nur allerletztes Mittel sein, denn ein unbegründeter Verdacht hätte oft, so Zink, „katastrophale Folgen für die Familie“. Nur wenn akute Gefahr für die Gesundheit oder das Leben des Kindes besteht, sollten ÄrztInnen die Behörden alarmieren.
Der Altonaer Arzt Volker Petersen weist solche Kinder häufig auch in ein Krankenhaus ein, um sie „aus der familiären Schußlinie“ zu bringen. Kinderarzt Zink setzt in erster Linie auf die Zusammenarbeit mit den Eltern. Doch auch die birgt Schwierigkeiten. Sind Vater und Mutter die Täter, so wechseln sie nicht selten den Arzt. Petersen stößt darüber hinaus bei vielen ausländischen PatientInnen auf Sprachbarrieren.
Wollen Kinderärzte der Gewalt gegen Kinder effektiv begegnen, so rät der Leitfaden zu intensivster Betreuungsarbeit. Per „Hausbesuch“ sollten sie sich einen Einblick in das familiäre Umfeld verschaffen. Gespräche mit den Eltern verhelfen zu einem Vertrauensbonus. Ob solch hochgesteckte Ziele in der Praxis tatsächlich umzusetzen sind, ist fraglich. Kinderarzt Petersen weiß aus eigener Erfahrung: „Dafür fehlt mir im Normalfall die Zeit.“
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