: Der Preis des Goldes
■ Das Tagebuch einer Gymnastin hat in Spanien eine Debatte über Trainingsbedingungen von Minderjährigen entfacht
Madrid (taz) – Jeden Morgen, pünktlich um acht Uhr, Antritt zur Gewichtskontrolle. In Unterwäsche defilieren sie, die Damen des Nationalteams in der Rhythmischen Sportgymnastik, unter dem strengen Blick ihrer Trainerin vorbei. Der Weg führt direkt zur Waage. Hier fällt die Entscheidung, denn vom Gewichtsergebnis hängt das Schicksal jeder einzelnen Sportlerin für den Rest des Tages ab: Maria Pardo, bis vor kurzem eine von ihnen, erinnert sich:
„Ich war diejenige, die die meisten Probleme hatte. Mit 1,70m bin ich die größte, und nach der Vorschrift meiner Trainerin durfte ich nicht mehr als 43 Kilo wiegen. Wenn ich 44 Kilo wog, hatte ich nur Anspruch auf ein halbes Abendessen. Und weitere 100 Gramm mehr, das bedeutete, daß ich nüchtern zu Bett gehen mußte.“
Maria hat das Nationalteam vor einem halben Jahr verlassen. Jetzt hat die 16jährige ihr Tagebuch in der spanischen Tageszeitung El Pais veröffentlicht und beschreibt darin, wie die Trainingsbedingungen im Gymnastikteam für sie zur persönlichen Tortur wurden. Andere Kolleginnen haben sich inzwischen öffentlich mit ähnlichen Bekenntnissen solidarisiert. Die Debatte, ob eine Medaille ein solches Martyrium wert ist, und inwieweit es sich vertreten läßt, solche Methoden für Minderjährige anzuwenden, hat ganz Spanien erfaßt. Der Regierung liegt inzwischen eine Petition der Opposition vor, die Aufklärung über die Praktiken im Hochleistungssport fordert.
Daß die professionelle Gymnastik ein hartes Geschäft ist, das bestreitet auch Emilia Boneva, die aus Bulgarien stammende Trainerin der Nationalmannschaft, nicht. Boneva, die das spanische Team in nur wenigen Jahren zu einem der erfolgreichsten der Welt herantrainiert hat, steht zu ihrer Methode: Härte ist der Preis für Schönheit in der Gymnastik-Elite. Eine Bedingung, mit der die Mädchen, die mit 15 Jahren Aufnahme ins erlesene Nationalteam finden, auch durchaus rechnen: „Daß sie mir das Brot wegnehmen und die Süßigkeiten, ist normal“, erzählt Patricia Elorduy, ebenfalls eine Gymnastikaussteigerin, der Zeitung El Pais, „aber was nicht normal ist, ist, daß du nach neun Stunden Training ins Bett gehst ohne Abendessen.“
Mariia erinnert sich daran, daß sie während der endlos langen Trainingsphasen häufig ohnmächtig wurde. Kein Wunder bei der kargen Kost. „Wenn wir zu Hause ankamen, spürten wir unsere Beine nicht mehr. Wir gingen ins Bett und konnten oft vor Müdigkeit und vor Schmerzen nicht einschlafen.“
Das einzige, wozu sie und ihre beiden Zimmergenossinnen dann noch Kraft hatten, war, sich über ihre Essensphantasien auszutauschen. Das Erfinden von Rezepten gehörte zu ihren beliebtesten Spielen. Meist allerdings blieb es dann auch bei den Phantasien. Doch die Versuchung, die Regeln zu durchbrechen, war ungemein. Vor allem auf Tourneen im Ausland, wenn das Team in Hotels übernachtete, schreibt Maria in ihrem Tagebuch. Dann nahm die Trainerin zwar in der Regel die Schlüssel der Minibars der einzelnen Zimmer in Gewahrsam oder überprüfte sie zumindest täglich, um sich davon zu überzeugen, daß sie nicht benutzt worden waren. Doch die Mädchen entwickelten Techniken, Süßigkeiten so zu entnehmen, daß die Verpackung fast nicht beeinträchtigt wurde. Einmal aber, in Griechenland, wurden sie erwischt, erzählt Maria: „Da wir um sechs Uhr morgens abfuhren, dachten wir, daß niemand zu dieser Zeit die Kühlschränke der Minibars überprüfen würde. Also beschlossen wir, sie zu leeren, und aßen alles auf, was im Kühlschrank war. Aber als dann kurz vor der Abfahrt ein Pförtner auf unsere Trainerin zukam, um ihr mitzuteilen, daß wir alles weggeputzt hatten, da wären wir vor Schreck fast tot umgefallen. Es gab eine Riesenstandpauke. Nicht nur, daß wir gegessen hatten, wir waren abgefahren, ohne zu bezahlen.“
Im Laufe der Zeit verschlechtern sich Marias psychischer Zustand und ihr Verhältnis zur Trainerin. Zwei Monate vor Atlanta: Der Druck wird immer größer und die Gewichtskontrollen härter. Maria koordiniert im Training die Bewegungen nicht mehr richtig, sie verfehlt die Reifen und gerät immer häufiger in Konflikt mit ihren Kolleginnen.
Schließlich hält sie es nicht mehr aus. Am 18. Mai der letzte Eintrag ins Tagebuch: „Viermal zu Hause angerufen. Ich habe meinen Eltern gesagt, daß ich nicht mehr kann und daß sie mich abholen sollen. Meine Mutter macht sich große Sorgen. Ich habe sie gefragt: ,Was willst du, eine Tochter oder eine Medaille?‘“
Die Olympischen Spiele von Atlanta, bei denen ihre Kolleginnen Gold im Teamwettbewerb gewannen, hat Maria gemeinsam mit ihren Eltern zu Hause vor dem Fernseher verfolgt. Sie geht jetzt wieder zur Schule, hat zwölf Kilo zugenommen und gibt Gymnastikunterricht. Ihre Trainerin behauptet nun nach der Veröffentlichung des Tagebuchs: Maria lügt. Die Ex- Elitesportlerin sei nur neidisch auf den Erfolg der anderen in Atlanta. Einige ihrer ehemaligen Kolleginnen schließen sich an, die Mehrheit schweigt.
Doch das wundert weder Maria noch die anderen Gymnastikfrauen, die inzwischen ausgestiegen sind: „Entweder du akzeptierst die Regeln, oder du gehst. Wie in einer Sekte.“ Cornelia Derichsweiler
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