: Babel und Jerusalem
■ Stadt im Film (IV): Chicago, die Welthauptstadt des männlichen Rationalismus
Die Depression“, berichtete eine Chicagoer Bürgerin, „die war so wirklich, daß sie unwirklich wurde. Es hatte etwas Grauenerregendes an sich. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal unter der Michigan Avenue Bridge entlangfuhr und nicht Hunderte, sondern Tausende von Männern sah, die, in ihre Mäntel gewickelt, einfach so auf dem Straßenpflaster lagen.“
Viele nahmen sich damals das Leben, oft mit dem Motiv, daß nur so, mit der Auszahlung der Lebensversicherung, die Frauen und Kinder einigermaßen versorgt waren. Der Fenstersturz aus Verzweiflung und Familiensinn wurde damals zur neuen Variante des Selbstmords. Unter denen, die in der Skyline von New York und Chicago nur Symbole der Raffgier und Skrupellosigkeit sahen, gab es sarkastische Stimmen, die meinten, daß die Wolkenkratzer gerade rechtzeitig für die Fensterstürze fertiggestellt worden seien.
„Die Wolkenkratzerfassade“, meinte Frank Lloyd Wright 1929, „ist nicht ethisch, schön oder dauerhaft. Sie ist eine kommerzielle Leistung, eine bloße Zweckdienlichkeit. Kein höheres Ideal hält sie zusammen als der geschäftliche Erfolg.“ Da war es konsequent, wenn jemand, der im Geschäftsleben von den Absatzkurven der Börse geprägt war, auch im Sterben noch die Architektur gewordenen Absatzkurven als Schlußbild im freien Fall im Auge hatte.
Für manche jener Architekten, die zu den Pionieren des Hochhausbaus gehörten, waren die Wolkenkratzer freilich viel mehr als boße Symbole des Geschäftssinns; für sie waren es Bauten, die das „Lied der Zeugungskraft sangen“ (Sullivan) und die mit dem „Turm zu Babel wetteiferten“ (Le Baron Jenney). Der Ort, an dem jene „virile Kraft“, von der Sullivan schwärmte, sich zuerst erhob, war Chicago.
Da gab es das 1882 errichtete, zehn Stockwerke hohe Montauk Building und das 16 Stockwerke hohe Monadnock Building aus dem Jahre 1891 von Burnham+Root, da waren das Auditorium Building von Adler und Sullivan, das Second Leiter Building von Le Baron Jenney+Mundie, und in jedem Jahr wuchsen neue Hochhäuser empor. Chicago, das war – noch vor New York – das Babylon, das zum neuen Jerusalem umgedeutet wurde. New York war das Eingangstor zum gelobten Land. In Chicago stand die Werkbank, und da war das Fließband, an dem sich das Geschick, der Fleiß und die Ausdauer der Neuankömmlinge aus der Alten Welt beweisen mußten, bevor sie aus Immigranten in Amerikaner verwandelt wurden.
„Was hat Nürnberg mit Chicago gemeinsam?“ fragte Werner Sombart 1906: „Nichts als die äußerlichen Merkmale, daß viele Menschen eng beieinander in Straßen wohnen, die für ihren Unterhalt auf Zufuhr von außen angewiesen sind. Dem Geiste nach nichts. Denn jenes ist ein dorfartig organisch gewachsenes Gebilde, dieses ist eine nach rationellen Grundsätzen künstlich hergestellte, wirkliche ,Stadt‘, in der alle Gemeinschaftsspuren ausgelöscht sind und die reine Gesellschaft niedergeschlagen ist. Und ist im alten Europa die ,Stadt‘ dem Lande nachgebildet, so ist in den Vereinigten Staaten das platte Land im Grunde nur eine städtische Siedlung, der die Städte fehlen.“
Chicago, das war und ist der große Transformator, an dem sich die Verwandlungen des Amerikanischen wie im Labor studieren lassen. Ein frühes Zeugnis dieser Neugierde ist vor kurzem aus den Archiven aufgetaucht, ein Stummfilm von Heinrich Hauser, der 1931 in Berlin Premiere hatte. Dieser Bericht über Chicago, mit dem anbiedernden Titel „Weltstadt in Flegeljahren“, zeigt in etwas mehr als einer Stunde die Stationen einer Reise, die das Anderssein des Amerikanischen aufspüren will. Sie beginnt auf dem Schiff. Aber das Wasser ist hier nicht der Atlantik, sondern der Mississippi, und das Schiff ist ein Schaufelraddampfer. Überall, wo er anlegt, nimmt er Fracht auf, Baumwollballen, Ziegen, Schweine... Kisten werden von barfüßigen, schwarzen Hilfsarbeitern verladen und vertäut. Am Ufer blicken schwarze Mütter mit ihren Kindern dem ablegenden Dampfer nach.
Hier bin ich gewesen, das habe ich gesehen
Selten sieht man Großaufnahmen von Menschen. Rasch wird klar, daß Hauser, der in seiner Zeit ein bekannter Schriftsteller war, der einen der erfolgreichsten Kulturfilme drehte („Die letzten Segelschiffe“, 1931) und nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Bestandsaufnahme des industriellen Wiederaufbaus herausgab, den Bildband „Unser Schicksal, die Deutsche Industrie“, 1952, daß Hauser weniger an Menschenstudien als an technischen Systemen, am Zusammenwirken von Mensch und Technik interessiert ist.
Anders als Walter Ruttmann, der in seinem Film „Berlin, Symphonie der Großstadt“ (1929) den Rhythmus der Stadt mit ständigem Wechsel von Nah und Fern, Schnelligkeit und Langsamkeit zu einem Komplexbild der Stadtwirklichkeit zusammenfügte, vertraut Hauser auf die geradlinige Erzählung. Er wandert von einem Motiv zum anderen. Seine Bilder sind filmische Wegmarkierungen. Hier bin ich gewesen, das habe ich gesehen: die schwimmenden Güterwagen, die Schleppzüge, die an abgeholten Uferböschungen vorbeibugsiert werden, die gigantischen Gleisanlagen, die Lokomotiven, die im Stellwerk unter Dampf gesetzt werden, und schließlich die Skyline, in der sich alle Energie bündelt: Chicago.
Zuerst zeigt sich die Stadt am frühen Morgen. Wenige Menschen hasten durch die Straßenschluchten, die Parks ähneln Brachflächen, bei denen noch nicht entschieden ist, ob sie nicht zu Bauland werden. Dann fängt der Autoverkehr an zu zirkulieren. Was auf den ersten Blick kurios wie der Auftakt zu einer Schnauferlparade anmutet, wird bald zum vertrauten Bild der Rush-hour. Von allen Seiten kommen die Wagen, Hunderte Chrysler- und Ford-Modelle, sie verlangsamen die Fahrt und stocken. Läden werden geöffnet, Fenster geputzt; die Hochbahn rattert an den Holzhäusern der Außenbezirke vorbei und kurvt in die Innenstadt, den „Loop“. Von oben ist das ein Blick wie aufs Förderband. Menschen, Autos, Menschen, eine Bewegung, die, so scheint es, nicht mehr aufzuhalten ist. Dann wechselt die Passagiersicht und steigt weiter nach oben zur Panoramaschau. Eine Weile schwebt die Kamera über der Michigan Bridge und dem Wrigley Building, dem Zentrum des Kaugummi-Imperiums, und dann geht's wieder nach unten, auf die Straßen zu den korrekt gekleideten Männern und Frauen, die aus Bahnhofshallen kommen und dem Gelderwerb entgegeneilen.
Das Soll erfüllen, im Zeitplan bleiben
Ein einziges Mal dringt die Kamera nun in einen Innenraum. Eine Drehtür wird in Schwung gebracht, und man ist im großen Saal einer Rohrpostanlage, an der viele Frauen Korrespondenzen und Nachrichten entnehmen und absenden. Ihre Hände schrauben, falten, verschließen ohne Unterlaß. Sie müssen ihr Arbeitssoll erfüllen und im Zeitplan bleiben, so wie es Frederick Taylor, der Rationalisierungsenthusiast, gefordert hat. Der Betrieb, die Fabrik und das Büro sollen im Idealfall eine Maschine darstellen, in der die mechanischen und die menschlichen Teile ineinandergreifen. Das bleibt nicht ohne Hausers Kommentar. Die nächste Sequenz zeigt Einzelteile aus der Traktorenproduktion, die scheinbar ohne Aufsicht auf dem Förderband der Endmontage zustreben, und der Zwischentitel fragt erschrocken: „Wo bleibt der Mensch?“
Die Zwischentitel sind Hausers Mittel der Zivilisationskritik. „Saurier unserer Zeit zertrümmern Urlandschaften“, heißt es bei Baggern, die Erde ausheben; und der „Weg des Fleisches“, das sind Schaf- und Rinderherden, die in jene Schlachthöfe getrieben werden, in denen das Fließbandsystem zur ersten Perfektion entwickelt worden ist. „Vierzig Minuten später“ folgt das Nachher: Fleischkonserven, die in hohem Tempo ins Irgendwo befördert werden.
Im American way of life, so das Klischee, sind Fortschritt und Stagnation, Reich und Arm nur einen Häuserblock voneinander entfernt. Auch Hauser übt sich im Nachzeichnen dieses seit langem beliebten Kontrastbildes. Die „Kehrseite der Wolkenkratzerfront“? Man weiß es schon, bevor sie gezeigt wird. Da ist der Müll auf den Straßen, in dem die Armen Nahrung suchen; da sind die Autowracks, die mit den Obdachlosen und Verwahrlosten in eine Bilderreihe gebracht werden; und da sind die Schlangen von Arbeitslosen, die vor den Labor Agencies auf irgendeinen Job warten. Gibt es da noch Hoffnung?
Kurz kommt ein schnauzbärtiger Mann ins Bild, der als Dr. Ben Reitmann, Arzt, Soziologe und „König der Landstreicher“ vorgestellt wird. Er redet vor einer Menschenmenge über das „Thema: Sowjetrußland“. Was sagt Reitmann, welche Bedeutung mißt ihm Hauser für den Ausweg aus der Krise bei? Das bleibt im dunkeln. Irgendwie ahnt man: Das Volk muß sich entscheiden. Für den Sozialismus? Für die Herrschaft des Weltproletariats? Man weiß es nicht.
Die Schlußbilder legen ganz andere Möglichkeiten nahe. Nicht geballte Fäuste und Transparente mit politischen Losungen zeigen sie, sondern die Chicagoer beim Plantschen im Michigan-See, bei der Gymnastik und beim Dösen. Also alle Macht dem Softeis? Ein seltsam aufgepapptes, zweckoptimistisches Ende, bei dem man den Verdacht hat, daß es einzig und allein dazu diente, bei der „Berliner Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht“ die Anerkennung als Lehrfilm zu bekommen – die ihm verweigert wurde. Andreas Seltzer
Hausers Film „Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago.“ (1931) wird derzeit in den Berliner Hackeschen Höfen gezeigt
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