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Kultiviert euren Autismus!

Das Herbstlaub matscht, der Sozialstreß steigt – das bedeutet nur eins: Die Novemberdepression grassiert mal wieder  ■ Von Ulrike Winkelmann

Keine Krise so tief, daß der Liebhaber eine nicht trotzdem darin sitzen ließe, kein Marmeladenglas so verschlossen, daß der Inhalt nicht verschimmeln würde, kein Professor so trantütig, daß das Seminar nicht trotzdem überfüllt wäre – kein Zweifel, es ist November. Zeit der nachdunkelnden Häßlichkeit, des Trauerrands ums Sichtfeld. Wer jetzt keine Affäre hat, bastelt sich keine mehr.

„Novemberdepression? – da haben Esoterik-Freaks wieder einen neuen Slogan, um Ohrenkerzen an das verwirrte Gemüt zu verscherbeln“, trompetete Freundin Antje kürzlich. Nun hat sie die Rache ihres geschmähten Ätherleibs aus der Spinnrad-Ampulle ereilt.

Bereits zu Berufsverkehrszeiten ist es dunkel, und das letzte Vergnügen des Jahres bis zum Weih-nachtsbaum-Vernichten bleibt, in ausreichendem Abstand zum Herbstlaubmatsch-Straßensaum zu radeln, sich dabei sanft in den Sturmböen zu wiegen, ab und zu überraschend mit der Hand zu wedeln und urplötzlich zur Fahrbahnmitte auszuscheren. Wenn es dann regnet, wagt kein Wagen mehr zu überholen, und selbst der zähste Autostrom läßt sich verlangsamen.

„Der Sozialstreß“, jammert Freundin Katrin über die vielen Menschen, zu denen sie nett sein soll, „wächst im selben Maße wie das universelle Verlassenheitsgefühl“. Autismus konsequent kultivieren lautet daher die Devise. Kein Zweifel, es ist November: Oder haben Sie sich noch nicht gefragt, warum der Achselhaarteppich auf dem Boden der Dusche immer dichter wird und die Mitbewohnerin tut, als sei sie den ganzen Tag mit dem Bewachen der Kaffeemaschine beschäftigt?

Erwiesenermaßen passieren im November die größten Verhütungsunglücke, entzünden sich die meisten Mitesser und legen sich die Oberschenkel die dickste Orangenhaut zu. Gute Bekannte, die es den ganzen Sommer unter ihrem Dreadlocken-Helm ausgehalten haben, rasieren sich plötzlich gegenseitig die Schädel und sind auch noch stolz auf ihre auftauchenden Segelohren.

In Skandinavien wurde im vergangenen Jahr eine Therapie gegen Novemberdepressionen entwickelt: Forscher gehen davon aus, daß nicht nur die Aussicht auf den Streß der Weihnachtsfeiertage, sondern vor allem der Lichtmangel die Ursache für die allnovembrig grassierenden Selbstmordtendenzen und Beziehungszerrüttungen sei. Sie fanden einen Punkt in Stirnmitte, der als eine Art Pantoffeltierchenorgan lichtempfindlich sein soll und die Unglückshormonproduktion steuert. Patienten wurden unter Höhensonnen gelegt, um die Schädelschwachstelle zu bestrahlen. Ergebnisse sind nicht bekannt.

Die Empfehlung meiner Mitwohnfreundin lautet einfach: „konsequent zur Flasche greifen“ und, in gut preußischer Tradition, „wenig Schlaf“, damit der Kreislauf in Schwung bleibt. Angeblich jedoch neigen viele Bundesdeutsche immer noch zum Mallorca-Kurztrip oder greifen zur Kuschelrock-CD, um die Seelenqual zu kompensieren oder zumindest durch emotionale Übersteuerung zu sublimieren.

Von den Hamburger Krankenkassen wird die saisonale Geißel, die regelmäßiger und verheerender auftritt als die Pest im Mittelalter, schlichtweg ignoriert. Die DAK verweist aufgeregte Anfragen an ignorante und noch viel aufgeregtere Sachbearbeiterinnen in der Abteilung für Psycho-Therapien. Nein, man kenne keinen einzigen Spezialisten zum Thema: „Versuchen Sie's doch bei der Verbraucherzentrale.“ Dort meldet sich allenfalls ein Anrufbeantworter. Der meint, daß sich derartige Probleme am Donnerstag morgen in der Beratungszeit zwischen neun und elf lösen ließen.

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