■ Rezzo Schlauch verlor, weil die SPD mit sich selbst kämpft: Das Rau-Syndrom
23. Mai 1994, Wahl den Bundespräsidenten. Auch im dritten Wahlgang hält die SPD an ihrem Kandidaten Johannes Rau fest, statt Hildegard Hamm-Brücher zu unterstützen. Selbt ein knapper Sieg Herzogs, so mutmaßt an jenem Tag einer der sozialdemokratischen Wahlmänner, Peter Glotz, müßte in der FDP tiefe Verbitterung auslösen. Kann eine Opposition, die den Namen verdient, auf solch ein Manöver verzichten, so fragt sich Glotz und antwortet: Wehner jedenfalls hätte nie darauf verzichtet.
Nun hatte die SPD 1994 keine Führungsfigur von Wehnerschem Format, sie fehlt ihr auch heute. Und so trug der bläßliche CDU-Mann Wolfgang Schuster bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl den Sieg davon. Keiner, der dem abgeschlagenen SPD-Aspiranten Rainer Brechtken den Verzicht nahegelegt hatte, so wie sich seinerzeit keiner traute, es Johannes Rau zu sagen. Wehner formte die Sozialdemokratie zur Volkspartei, nun fehlt jemand, der sie führt, wo ihr das Volk abhanden kommt. Verfangen in einstiger Größe ist sie unfähig, strategisch zu agieren. Während bei der Wahl des Frankfurter als auch jüngst des Hannoveraner Oberbürgermeisters die Grünen jeweils zugunsten der SPD-Männer verzichteten, übte die SPD mit ihrem Kandidaten Solidarität bis zum bitteren Ende. Und das Ende war vorhersehbar bitter.
Doch je größer der Fall in der Wählergunst, desto starrer richtet sich der sozialdemokratische Blick nach innen. So wird die SPD unfähig, wahrzunehmen, daß die entscheidenden Auseinandersetzungen in den großen Städten zwischen Milieus ausgetragen werden, deren parteipolitische Exponenten sich zunehmend im christdemokratischen und im grünen Lager finden. Das ist in Stuttgart nicht anders als in Frankfurt. Schon vor zwei Jahren haben Scharping und andere den Funktions- und damit Bedeutungsverlust der SPD in den Großkommunen beklagt. Die Klage blieb bislang folgenlos. Vielmehr scheint es, daß gerade ihre Schwäche es der SPD unmöglich macht, Bündnispositionen zu formulieren. Statt dessen setzt sie stur auf Sieg, auch wenn der sich, wie jetzt in Stuttgart, in der größeren Niederlage des Parteiquerulanten Joachim Becker erschöpft.
Immerhin können nun die Parteiannalen vermelden, daß die deutsche Sozialdemokratie am 10. November 1996 einmal den Sieg über sich selbst davongetragen hat. Und das ist doch auch schon was. Dieter Rulff
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