Wegsehen vom Holocaust

Jetzt freigegebene Dokumente belegen, daß englische und amerikanische Dienststellen bereits im Herbst 1941 vom Völkermord an den Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten wußten  ■ Von Christian Semler

Berlin (taz) – Montag dieser Woche veröffentlichte die Washington Post einen Bericht ihres Korrespondenten Michael Dobbs, der ein äußerst schmerzhaftes Kapitel der englischen und amerikanischen Geschichte zur Zeit des zweiten Weltkriegs tangiert. Es geht um die Frage, wann Dienststellen der westlichen Alliierten zuverlässige Nachrichten über den Massenmord der Deutschen an Juden im besetzten Rußland erhielten und wie sie auf diese Nachrichten reagierten.

Richard Breitman, Professor an der „American University“ hatte unter Berufung auf den „Freedom of Information Act“ erreicht, einen Aktenbestand einsehen zu dürfen, der insgesamt 1,3 Millionen Blätter umfaßt. Dieser Papierberg umfaßt die Transkription von Berichten, die über Funkspruch von höheren SS-Führern an deren leitende Dienststellen nach Berlin gingen. Der Code, in dem die Deutschen sie damals verschlüsselt hatten, war im Rahmen der „Ultra Intercepts“ unter Mithilfe polnischer Experten geknackt worden. Die Übersetzungen gingen praktisch sofort von den britischen an die amerikanischen Geheimdienststellen.

Die bislang von Breitman erschlossenen Dokumente reichen vom Überfall auf die Sowjetunion bis zum September 1941. Was darüber bis jetzt bekannt wurde, belegt aufs neue, daß der Besetzung der westlichen Gebiete der Sowjetunion, also Weißrußlands, der baltischen Republiken und Teilen der Ukraine, die Mordmaschine der Deutschen auf dem Fuße folgte. Die Zusammenarbeit von Einheiten der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kripo), des Sicherheitsdienstes, von Regimentern bzw. Bataillonen der „Ordnungspolizei“ mit regulären Armee-Einheiten geht aus den „Erfolgmeldungen“ der Höheren SS- und Polizeiführer an Himmler bzw. den Chef der Ordnungspolizei, Daluege, klar hervor. Meldungen dieser wie auch unterer Ebenen der Nazi- Hierarchie sind – wenn zum Teil auch lückenhaft – im Bundesarchiv und in den Archiven von Yad Vashem einsehbar, und von Forschern auch benutzt worden.

Wenn der jetzt freigegebene Dokumentarbestand gesichtet sein wird, wird sich nicht nur die Zahl der Mordopfer genauer bestimmen lassen, sondern auch das Ausmaß, in dem die Wehrmacht und Polizeitruppen an den Mordunternehmungen beteiligt waren mit noch größerer Klarheit hervortreten. Bis in die jüngste Zeit waren Arbeiten wie die Ausstellung „Vernichtungskrieg“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die eben diesen Nachweis führten, zahlreichen Angriffen und Verleumdungen ausgesetzt gewesen.

Aber nicht die Aussicht auf diese historische Klärung erregt gegenwärtig die Öffentlichkeit, sondern das frühe Datum, zu dem amerikanische Stellen Kenntnis von unbezweifelbaren Quellen erhielten, die den Massenmord an Juden in der besetzten Sowjetunion belegen. Bisherige Forschungen haben bereits aufgezeigt, wie unwillig die amerikanische Administration auf Nachrichten reagierte, die den Beginn des Massenmordes schilderten. Der aus Deutschland emigrierte Völkerrechtler Gerhard M. Riegner beispielsweise unterrichtete bereits im Oktober 1941 amerikanische Regierungsstellen von den Morden der Nazis mittels Abgasen – ohne Reaktion.

Eine Erklärung dieses hartnäckigen Wegsehens hat man bislang darin gefunden, daß die mit der Analyse der Mordnachrichten beauftragten Wissenschaftler und Politiker sie einfach nicht glaubten. Ihnen stand die Greuelpropaganda vor Augen, die von allen Seiten im ersten Weltkrieg betrieben worden war. Ein zweites Hindernis bestand in der militärischen Borniertheit vieler Analytiker. Sie wollten, wie der Historiker Walter Laqueur geschrieben hat, „wissen, wo ein bestimmter Truppenteil des Feindes stand, und waren nicht sonderlich interessiert an Berichten über Grausamkeiten“.

Der wichtigste Grund dafür, daß Indizien für den deutschen Völkermord an den Juden in den USA ignoriert wurden, liegt nach Richard Breitman, der jetzt die Transkription der Funksprüche einsieht, darin, daß der Krieg gegen Nazi-Deutschland auf keinen Fall als Kampf für die Rettung der europäischen Juden erscheinen sollte. Eine derartige politische Linie hätte nach Meinung vieler damaliger Verantwortlicher die Kriegsbereitschaft des amerikanischen Volkes, das Roosevelt sowieso nur wiederwillig in den Krieg gefolgt sei, unverantwortlich geschwächt. Noch gab es Zulassungsbeschränkungen für Juden in einer Reihe von Berufen. Und die Einwanderungsquote für Bewerber aus den osteuropäischen Ländern, zu denen auch die polnischen und sowjetischen Juden gezählt wurden, war völlig unzureichend.

Es verwundert daher nicht, daß selbst jüdische Organisationen in den USA eine allzu deutliche Schilderung dessen, was den europäischen Juden widerfuhr, ablehnten. Mit den Worten des Historikers Raul Hilberg: „Großbritannien und die Vereinigten Staaten führten einen streng kontrollierten Krieg, hielten ihre Verluste möglichst gering und vereinfachten ihre Sprache. Angesichts dieser Haltung konnte jede Befreiung der Juden nur ein Nebenprodukt des Sieges sein.“