: „Ausdruck eines Rachebedürfnisses“
■ Im Gegensatz zum Verfassungsgericht sagt der Rechtsphilosoph Ernst Tugendhat: Es gibt keine Rechtsgrundlage für die Urteile gegen die Mauerschützen und deren Vorgesetzte
taz: Herr Tugendhat, ist es richtig, Grenzsoldaten und Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats wegen der Schüsse an der Mauer zu bestrafen?
Ernst Tugendhat: Ich bin ein Anhänger einer strikten Anwendung des Rückwirkungsverbotes. Menschen in einem Staatsgefüge müssen wissen, woran sie sind, und zwar unabhängig davon, was andere für moralische Urteile über sie fällen. Daraus ergibt sich für mich erst einmal keine mögliche Bestrafung, wenn sich das System verändert.
Das Bundesverfassungsgericht bejaht aber die Strafbarkeit und stützt sich dabei auf den großen Rechtstheoretiker der Weimarer Republik, Gustav Radbruch. Der hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich 1946 gesagt, daß das Rückwirkungsverbot dann zurückstehen muß, wenn die Rechtsverletzungen den Vorstellungen von Gerechtigkeit diametral entgegenstehen.
Würden die Gerichte ähnlich argumentieren gegenüber einem Witwenverbrenner in Indien? Würden sie wegen einer höheren moralischen Einsicht sagen, man kann doch nicht einfach Witwen verbrennen, das ist Mord?
Wenn man davon ausgeht, daß es so etwas wie ein Naturrecht gibt, also Rechtssätze, die immer und überall gelten, dann wohl schon. Mit Blick auf die DDR wird gesagt: Zu fundamentalen, allgemein gültigen Rechten gehört die Freiheit der Menschen und damit auch ein Recht auf Ausreise.
Ich folge aber diesem Argument nicht. Es gibt kein Naturrecht. Daß Gustav Radbruch unter dem unmittelbaren Eindruck der Nazizeit einen solchen Satz aufstellte, ist aus der Situation heraus verständlich, vernünftig finde ich ihn nicht. Ich bin meinerseits in der Moral kein Relativist und würde sagen, es gibt moralische Sätze, die sich begründen lassen. Ich würde aber eine sehr klare Trennung zwischen Moral und Recht machen wollen. Wir streben ein Recht an, das möglichst unseren moralischen Vorstellungen entspricht. Aber es entspricht unseren moralischen Überzeugungen auch, daß wir mögliche Täter schützen müssen. Einer dieser Schutzvorkehrungen ist der Satz: Keine Strafe ohne Gesetz. Sobald man diesen Satz in Frage stellt, wird es völlig willkürlich, wo man die Grenze zieht.
Was wiegt schwerer, das Rückwirkungsverbot, das ein formeller Rechtssatz ist, oder materielle Rechtssätze, wie zum Beispiel das Tötungsverbot.
Es ist falsch, das Tötungsverbot als Rechtssatz zu bezeichnen. Es ist ein moralischer Satz. Und eben deswegen kann nur innerhalb eines politischen Rechtssystems bestraft werden. Selbst wenn wir der Meinung sind, daß moralische Überzeugungen universal sind, gilt für einen vermeintlichen Verbrecher ausschließlich die Strafrechtsordnung seines Staates. Auch wenn er in einer moralisch unmöglichen Ordnung moralisch unmöglich gehandelt hat, darf ich ihn nicht rechtlich, sondern nur moralisch verurteilen.
Würden Sie soweit gehen, zu sagen: Die Vollstreckungsgehilfen eines Staates dürfen auch dann nicht bestraft werden, wenn die Gesetze dieses Staates direkt die Vernichtung von Menschen oder Gruppen von Menschen vorsehen?
Ja, das würde ich sagen. Ich glaube, wenn so etwas passiert, wie es ja faktisch in der NS-Zeit geschehen ist, es sehr wichtig wäre, den Unrechtscharakter dieser Zeit für die Bevölkerung sichtbar zu machen. Und dann muß erklärt werden, weshalb man gleichwohl nicht straft.
Wie würden Sie eine solche Erklärung fassen?
Man muß erklären, daß der Wunsch zu bestrafen Ausdruck eines Rachedenkens ist. Wie die Mutter des einen Maueropfers, die sagt: Hier wurde ein Mord begangen, der wird nicht gerächt, das ist ungerecht. Das ist eine verständliche Reaktion. Man muß aber auch sagen: Diese Reaktion ist Ausdruck eines Rachebedürfnisses, und diesem Rachebedürfnis ist leider nicht Genüge zu tun.
Wieso kommen Sie zu der Auffassung, daß ein Rückwirkungsverbot besser zu begründen ist als ein Tötungsverbot?
In dieser Schlichtheit gesprochen ist das Rückwirkungsverbot wahrscheinlich nicht wichtiger, weil das Tötungsverbot auch ein zentraler Grundsatz ist. Nur, dieser Satz ist in unserer Rechtsgeschichte immer wieder durch irgendwelche anderen Sätze durchbrochen worden. Immer heißt es: Du sollst nicht töten, wenn nicht dies oder jenes gegeben ist. Zum Beispiel eine Notwehrsituation oder die Tötung im Krieg.
Warum sollte ein Staat nicht ein Gesetz machen dürfen mit dem Inhalt: Du darfst töten, wenn jemand die Republik verlassen will. Oder: Du darfst und sollst töten, um das Eindringen von Menschen in diesen Staat zu verhindern. Man muß das Rückwirkungsverbot sehr ernst nehmen – wenn es überhaupt eine Rechtsordnung geben soll, dann muß dieser Rechtsgrundsatz gelten.
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