: Kalte Lust, schnelle Wut
Die Kirche ist ausverkauft: In Rostock hat sich das Theater mit Heiner Müllers „Macbeth“-Version und enorm körperbetontem Spiel aus dem kulturellen Abseits herausmanövriert ■ Von Nikolaus Merck
Die nicht aufpassen, stürzen. Im Foyer des Rostocker Volkstheaters herrscht Zwielicht, der Steinfußboden ist spiegelglatt. Unversehens sitzt auf dem Hintern, wer beim Treppenabstieg ins Große Haus auf modischer Sohle wandelt. Im flachen Mecklenburger Land empfehlen sich Bergstiefel für alle, die das Theater im Keller besuchen wollen.
Massenhaft gebrochene Knochen sind jedoch nicht zu befürchten, denn die Rostocker meiden ihr Stadttheater. Vor allem das Schauspiel. Daran konnte bisher auch Christina Emig-Könning nichts ändern, obwohl die kommissarisch amtierende Schauspielchefin mit den „Stühlen“ von Ionesco und Ibsens „Frau vom Meer“ in diesem Jahr bereits zwei bemerkenswerte Inszenierungen vorgelegt hat. Gerade 28 Zuschauer verirrten sich Mitte September in die Aufführung von Ibsens Seestück. Solch Bitternis versüßt auch nicht die Hymne, die jüngst das Fachblatt Theater heute der Aufführung sang.
Rostock, Mekka der westlichen Dramatik
Seit dem Tod von Generalintendant Hanns Anselm Perten vor elf Jahren dümpelt das Rostocker Theater im Keller. 35 Jahre lang dauerte die Regentschaft des stalinistischen Theaterdauerbrenners im Haus am Patriotischen Weg, unterbrochen nur von einem zweijährigen Scheitern am Deutschen Theater Anfang der siebziger Jahre. Vermöge seiner politischen Bruderschaften im ZK hatte es Perten in den sechziger Jahren verstanden, Rostock zum Mekka für westliche Dramatik in der DDR auszubauen. Weil er den Stücken von Peter Weiss und Rolf Hochhuth verläßlich den kritischen Stachel zog, der (auch) wider die Verhältnisse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft löckte, war Perten schon früh gestattet, was damals andernorts noch schnöder Zensur zum Opfer fiel.
Dem Abgang Pertens ins sozialistische Elysium folgte die Krise. Niemand weiß mehr genau zu sagen, wie viele Intendanten seither auf dem schlüpfrigen Rostocker Theaterboden ausgeglitten sind. Erst mit dem anderthalbjährigen Interregnum des aus der Pension zurückgeholten früheren Mannheimer Theaterchefs Arnold Petersen kehrte wieder produktive Ruhe in den neobarackenhaften Flachbau ein. Die scheint jetzt beendet. Eine Breitseite aus unerwarteter Richtung erwischte letzte Woche den Petersen-Nachfolger Manfred Straube.
Nach einem kritischen Bericht des Rechnungsprüfungsamtes legte die PDS-Opposition in der Rostocker Bürgerschaft dem vor zwei Jahren aus Neustrelitz gekommenen Theatermann andauernde finanzielle Mißwirtschaft zur Last und forderte seine Beurlaubung. Einen „Vertrauensbruch“ beklagte auch der sozialdemokratische Oberbürgermeister Arno Pöker und beschwerte sich, der Intendant habe, anstatt die städtischen Vorstellungen über die Kürzung des Theateretats umzusetzen, für 1997 unverrückbare Fakten geschaffen. Jetzt drohen Straube „personalrechtliche Konsequenzen“.
Die Angst vor dem Haushaltsloch
Unschwer zu erkennen, daß es sich bei den neuesten Rostocker Turbulenzen um anderes handelt als eine falsch abgerechnete Dienstreise oder das zu hohe Gehalt der Verwaltungschefin. 66 Millionen Mark weit klafft das diesjährige Haushaltsloch in Rostock. Und weil keine Besserung in Sicht ist, die offizielle Arbeitslosigkeit 18 Prozent beträgt und die Abwanderung der Besserverdienenden ins Umland stadtfluchtartige Ausmaße annimmt, soll das Theater sparen. 1,5 Millionen oder 24 Stellen im nächsten Jahr. Da jedoch Straube argwöhnt, die Stadt wolle eine der drei Sparten seines Hauses schließen, fordert er eine Bestandsgarantie für sein Theater. Nur unter dieser Bedingung will er über einen weiteren Stellenabbau verhandeln und wettert einstweilen gegen den „Dreck“, der auf ihn und das Theater geworfen werde.
Dabei hatte alles so gut ausgesehen. Während im ganzen Küstenland die staatlichen Sparkommissare als Abbruchbrigaden an den Theatern nagen, war Straube noch im September das Kunststück gelungen, eine neue Spielstätte zu ergattern. Für das Rostocker Kleine Haus – ein ehemaliges Bordell in der Eselföter Straße im Stadtzentrum –, das zum Spielzeitende als einstürzender Altbau geschlossen werden muß, soll binnen Jahresfrist am Stadthafen Ersatz geschaffen werden.
In einem ehemaligen Sozialgebäude, das die Stadt als bundesweiter Vorreiter in Sachen Privatisierung von einem Investorenkonsortium least, soll neben dem Hafenwirtschaftsamt und einer Kneipe auch das Theater eine neue Heimstatt finden. Nach diesem kleinen Wunder und bestärkt von der überregionalen Beachtung für seine europäische Erstaufführung von Josef Tals Oper „Josef“, wähnte sich Straube bereits auf dem rechten Weg, seinem Haus den Ruf einer ersten Adresse für Ur- und Erstaufführungen zurückzugewinnen. Nun aber scheint es, als habe auch er auf dem Rostocker Parkett den Halt verloren.
Gegen die bei jeder Intendantenkrise ins Kraut schießende Existenzangst am Theater hält es Christina Emig-Könning mit Shakespeare: „Arbeit, die wir gerne tun, ist keine.“ Doch die Botschaft, die der Aufkleber zur „Macbeth“- Aufführung verkündet, verhüllt einen Widersinn. Was für sich genommen als der Spaß der Theatermacher an ihrem exzentrischen Beruf erscheint, bezeichnet in Heiner Müllers „Macbeth“-Bearbeitung die kalte Lust an schneller Wut. Die „Arbeit“, von der hier die Rede geht, ist ein Mord en passant, ein Mord aus der Hüfte. Und weil „Macbeth“ in Emig-Könnings Lesart sich als blutig-todessüchtiger Reigen der Herren dieser Welt darbietet, die ausjäten, was irgend sich lebend regt, gewinnt der zynische Satz im Kopf des Zuschauers unversehens einen neuen Sinn: Fahrt zur Hölle, verdammte Hunde, eurer bedarf niemand!
Vier Tribünen umgeben die drehbare Arenabühne im Mittelschiff von St. Nikolai, einer profanisierten Kirche in der Rostocker Altstadt. Hier treffen sich sonst die Arbeitslosenselbsthilfe und die Anonymen Alkoholiker. Ein Zelt aus Plastikplanen umschließt Zuschauer und Bühne und dämpft den Nachhall der Stimmen. The Jack Of All Trades, eine Rostocker Rockband, treibt das sich entspinnende Machtspiel mit ihrer Musik voran. Das erste Opfer, der abtrünnige Than von Cawdor, wird zwischen den Zuschauern hervorgezerrt und mit einer Axt enthauptet. Zur unerhörten Erheiterung des Königs spielen die Feldherren Ball mit dem bluttriefenden Schädel, bis schließlich Königssohn Malcolm den Kopf zärtlich in seinen Armen birgt.
Aber auf diesem Parforceritt ins blutig bereitete Grab erzählen selbst die zärtlichen Gesten nicht von der Liebe, nur vom Tod. Immer wieder vom Tod. Die Tragödie zeigt die Verzweiflung an einer Welt, die sich nicht ändern läßt. Christina Emig-Könnings Version steigert diese Verzweiflung zum Entsetzen. Dabei ist der Körper der Figur klüger als der Kopf, er kennt von Beginn an sein Schicksal. So packt etwa Banquo das Grauen schon beim Eintritt in Macbeth' Schloß, noch bevor er vom Mord an König Duncan erfährt. Das ist die Stärke der Inszenierung. Ihre Schwäche: Zwischen all dem Morden und Sengen, dem Schänden und Zungen herausreißen verschwinden mögliche Zwischentöne, die der Faßbarkeit der Geschichte zuträglich wären.
Pulp Fiction als Programm
Aber Christina Emig-Könning ist es um anderes zu tun. Gemeinsam mit ihrem energiegeladenen Ensemble kämpft sie um ein neues Publikum für ihr Schauspiel. Der „slow crust emo noise“ von Jack Of All Trades, der das Spiel auf der Bühne mehr vorwegnimmt, als ihm eine zusätzliche Dimension hinzuzufügen, der spektakuläre Ort inmitten des noch immer verfallenden Teils der Altstadt, die außergewöhnliche Gewalttätigkeit, mit der die Regisseurin die Szene aufgeladen hat – alles das ist Programm. Pulp Fiction. Die Lust an zynischen Gewaltphantasien, in denen ein enteignetes, vornehmlich jugendliches Bewußtsein zu sich selbst findet.
Der Erfolg gibt der Regisseurin recht. Die Kirche ist ausverkauft. Und während manch ehrbarer Bürger das Spektakel vorzeitig verläßt, applaudieren die Jungen begeistert.
„Macbeth“ von Heiner Müller nach Shakespeare. Regie: Christina Emig-Könning. Ausstattung: Daniel Roskamp. Volkstheater Rostock. Weitere Vorstellungen 7. bis 9. Dezember
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