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Das Wissen um den Nazi-Code sollte geheim bleiben

■ Der Massenmord war dem britischen Geheimdienst spätestens im Herbst 1941 bekannt, sagt Richard Breitman, Professor für Geschichte an der American University in Washington

taz: Herr Breitman, wie ist es Ihnen gelungen, die Freigabe dieser Unterlagen zu erreichen?

Richard Breitman: Ich gehöre einer Vereinigung an, die sich „Conference Group for Central European History“ nennt und die dem amerikanischen Historikerverband angehört. Diese Gruppe forderte die National Security Agency (NSA) 1994 in einer Resolution auf, alle verschlüsselten Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg freizugeben. Es gab eine Exekutivorder aus dem Weißen Haus, alle chiffrierten Dokumente nach Kriegsende mindestens 50 Jahre geheimzuhalten. Aber diese Frist war 1994 fast verstrichen. Es gab dann ein Gespräch zwischen Vertretern der NSA und mir — und die Behörde hat dann beschlossen, nicht nur die von mir angefragten, sondern alle Dokumente aus diesem Zeitraum öffentlich zu machen. Mir speziell ging es natürlich um die Niederschriften von deutschen Funksprüchen aus den besetzten Teilen der Sowjetunion an die Oberen in Berlin. Ich wußte, daß der Verschlüsselungscode der Ordnungspolizei geknackt worden war. Was ich genau in den NSA-Dokumenten finden würde, war mir vorher natürlich nicht klar.

Warum waren diese Unterlagen überhaupt so lange geheim?

Alle Dokumente, die etwas mit Verschlüsselung oder deren Dechiffrierung zu tun haben, werden von Geheimdiensten mit Argusaugen bewacht und so lange wie möglich unter Verschluß gehalten. In diesem Fall nehme ich auch an, daß Großbritannien der Freigabe erst einmal zustimmen mußte.

Wie umfangreich sind die neuen Unterlagen?

Es handelt sich um etwa 1.500 bis 2.000 Fernschreiben der Ordnungspolizei — einige nur ein paar Zeilen, andere sehr ausführlich.

Sind Sie bei der Durchsicht auf neue Erkenntnisse gestoßen?

Zunächst einmal zeigt sich, daß die Rolle der Ordnungspolizei weit größer war, als bisher bekanntgewesen ist. In dieser ersten Phase des Holocaust waren etwa viermal mehr Angehörige der Ordnungspolizei als der SS-Einsatzgruppen beteiligt. Die Ordnungspolizei hatte bis vor kurzem noch ein relativ „unschuldiges“ Image. Die Realität aber sieht ganz anders aus.

Bestätigt das Daniel Goldhagens These vom „ganz gewöhnlichen Deutschen“, der auch ohne Zugehörigkeit zu einer Nazi-Elitetruppe zum eifrigen Vollstrecker des Holocaust wird?

So weit würde ich auf keinen Fall gehen. Die Ordnungspolizei war zwar keine Eliteeinheit der Nazis, aber sie war nach meiner Ansicht auch keineswegs repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Ich stimme auch Goldhagens These nicht zu, daß der Antisemitismus vom 19. Jahrhundert an ein gleichbleibend prägendes Element der deutschen Gesellschaft war. Der Antisemitismus hat deutlich nach dem Ersten Weltkrieg zugenommen und wuchs noch einmal massiv mit der Machtübernahme der Nazis.

Was hätte getan werden können, wenn diese Informationen bereits im Herbst 1941 an die internationale Öffentlichkeit gekommen wären?

Militärisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel. Aber die Reaktion der Öffentlichkeit hätte sicher einiges bewirken können. Ich kann zum Teil schon nachvollziehen, warum der britische Geheimdienst zu diesem Zeitpunkt nicht preisgeben wollte, daß er den Code der Nazis geknackt hatte. Schließlich ging es diesen Leuten in erster Linie darum, soviel wie möglich an militärisch wertvollen Informationen des Feindes zu sammeln. Andererseits gab es zu diesem Zeitpunkt bereits Berichte aus anderen Quellen über Massenmorde an Juden. Die Briten hätten diese einfach nur bestätigen können. Das haben sie aber nicht getan.

Zu welchem Zeitpunkt hat der britische Geheimdienst die abgefangenen Funksprüche an die USA weitergegeben?

Das geht aus den Unterlagen bislang nicht hervor. Man darf wohl annehmen, daß diese Informationen während des Krieges an die USA weitergegeben wurden. Aber ich kann nichts über den genauen Zeitpunkt sagen. Was man aber nach Einsicht in die dechiffrierten Funksprüche genau sagen kann: Der britische Geheimdienst hatte spätestens seit dem Herbst 1941 eindeutige Informationen über die systematischen Massenmorde der Nazis an den Juden.

Vertreter der jüdischen Gemeinde in den USA informierten die Öffentlichkeit erstmals im November 1942 über die geplante Vernichtung der europäischen Juden. Halten Sie es für möglich, daß die dechiffrierten Fernschreiben der Ordnungspolizei bereits vorher an US-Stellen weitergeleitet worden waren?

Möglich ist es schon. Aber dann bleibt immer noch die Frage, welche Stellen davon wußten. Jeder, der sich mit Regierungsapparaten beschäftigt, realisiert erst einmal, aus wie vielen Zweigen und Behörden sie bestehen. Was die eine Stelle an Informationen hat, muß die andere noch lange nicht wissen. Interview Andrea Böhm

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