: "Wer ist denn hier schon Opposition?"
■ Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso vor seinem Deutschlandbesuch über seine Pläne, Brasilien zu verändern
taz: Brasilien hat zwischen 1987 und 1995 zehn Milliarden Dollar mehr an die Weltbank gezahlt, als es bekommen hat. Die Auslandsschulden belaufen sich auf 135 Milliarden Dollar...
Cardoso: Die Banken saugen uns aus. Eigentlich sollten sie Geld für die Entwicklung Brasiliens zur Verfügung stellen, aber das Gegenteil ist der Fall. Das werden wir unverzüglich ändern. Das Problem ist der Fluxus: Es muß mehr Geld reinkommen als an die Weltbank zurücküberwiesen wird. Ich habe schon mit den Weltbank-Vorsitzenden darüber geredet.
Mexiko mußte seine Erdölreserven verpfänden, um weiter internationale Kredite zu bekommen. Argentinien bezahlt seine niedrige Inflation mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Und Brasilien?
Schon als Wirtschaftsminister (Oktober 1993 bis April 1994) habe ich versucht, dem chilenischen Beispiel zu folgen. Eine Dollarisierung nach argentinischem Vorbild war nie geplant. Und wir haben niemals die Idee akzeptiert, Inflation durch Rezession zu bekämpfen. Wer sich zur Zeit in Brasilien über Rezession beklagt, sind einzelne Sektoren wie die Autozuliefererindustrie, die durch technologische Neuerungen umstrukturiert wird, und die Opposition. Die Zentralbank hat gerade die Zinsen gesenkt und Krediterleichterungen gewährt, um einer Rezession entgegenzusteuern. Brasilien braucht ein starkes Wachstum, wir können uns den Luxus einer zwanzigprozentigen Arbeitslosigkeit nicht leisten. Das hat hier dramatischere Konsequenzen als in Argentinien, denn dort ist der Lebensstandard allgemein höher.
Wie sehen Sie Brasilien in 20 Jahren?
Brasilien muß sich insbesondere im sozialen Bereich radikal verändern. Solange Brasilien nicht die massive Armut überwindet, kann es nicht modern sein. Was haben die asiatischen Tiger gemacht? Sie haben in Bildung investiert. Das ist die große Herausforderung. Aber die brasilianische Gesellschaft hat sich schon verändert, deswegen bin ich Präsident und nicht umgekehrt. Noch ist die ganze politische Bürokratie hier in Brasilien vertikal. Der Präsident befiehlt, der Minister dekretiert, und dann passiert trotzdem nichts, weil die Bürokratie alles lähmt. Wir sind dabei, dieses System zu verändern.
Das sind alles langfristige Vorhaben. Gibt es Wahlversprechen, die Sie in ihrer vierjährigen Amtszeit nicht einhalten können?
Ja. Ich habe zum Beispiel nicht mit der Krise in der Landwirtschaft gerechnet. Ich wußte nicht, wie schwer es ist, die Agrarreform umzusetzen.
Wie verlaufen die Verhandlungen mit der Opposition?
Ach, wer ist denn hier schon Opposition? Nur ein Beispiel: Neulich kamen fünfzig Bürgermeister zu mir, die meisten von der Arbeiterpartei PT oder von meiner sozialdemokratischen Partei, um sich über die geplante Steuerreform zu beschweren. Sie wußten es nicht, aber alles, was sie dachten, war falsch. Ich habe sie aufgeklärt, und hinterher waren sie begeistert.
Wenn es so einfach ist, Brasilien zu regieren, wieso wagen Sie dann nicht größere politische Veränderungen?
Das Problem meiner Regierung ist, daß sie die Vergangenheit teilweise wiederholt. Das Volk steht hinter mir, aber es gibt keine Partei mit ausreichender Mehrheit, die sagt, wo es langgeht. Es gibt zu viele unterschiedliche Interessengruppen. In der modernen Massengesellschaft hat sich die Rolle des Staatsoberhauptes verändert, in Wirklichkeit bin ich ein Vermittler. Der Präsident symbolisiert das Selbstverständnis einer Nation, er muß ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen sozialen Kräften herstellen.
Hat Sie dieses Harmoniebedürfnis dazu gebracht, ausgerechnet mit der rechten Liberalen Partei PFL eine Allianz einzugehen? Eine Partei mit dieser Tradition müßte eigentlich Ihr Erzfeind sein.
Die PFL-Parteiführung hat gespürt, daß sich der Wind gedreht hat. Klar: Die Abgeordneten und die Parteibasis sind noch vielfach dem Klientelismus verhaftet, weil sie seit 30 Jahren an der Macht sind. Und wenn ich mit ihnen politische Theorie, Liberalismus diskutieren würde, käme ich in große Schwierigkeiten. Aber warum soll ich das machen? Ich glaube, daß das 20. Jahrhundert die ideologische Polarisierung beenden wird. Ich ziehe es vor, praktisch vorzugehen: Wo ist das Problem – und was ist die Lösung? Interview: Astrid Prange
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