piwik no script img

Jazz netto Zeitgeist

■ Das Konzept des Jazzfestes in der Fabrik gehört grundsätzlich überdacht

Berühmt waren sie fast alle, die heurigen Gäste. Ihre spielerischen Qualitäten sind über jeden Zweifel erhaben. Aber muß die Kritik beim 21. Jazzfest in der Fabrik wirklich noch einmal McCoy Tyner in den Himmel loben, der doch vor wenigen Wochen erst beim Westport-Festival ein überragendes Konzert gab? Muß erwähnt werden, daß Abercrombie, DeJonette und Holland legendäre Alben auf ECM produziert haben – aber eben in den 70ern. Daß es Diane Reeves versteht, wenn sie einen guten Tag hat, im Karibik-Funky-Jazz-Groove die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Und sicher ist Joe Zawinul eine lebende Legende des Jazz, aber warum muß er denn jetzt noch singen: Merci, Merci? Zudem: Wer hat ihn eigentlich hören können?

Draußen vor der Tür der Fabrik drängelten sich am Samstag in lebensgefährlicher Dichte die Fans gleich zweier sogenannter Superstars: Neben Zawinul-Fans kam scheinbar die afrikanische Gemeinde aus ganz Deutschland zusammen, um Youssou N'Dour mit Gästen zu sehen und zu hören. Aber, oh, du armer, gebeutelter Gott der Organisation: Nichts ging voran, kaum jemand kam rein – Leute schrieen zu Recht ihren Unmut darüber hinaus, daß sie immerhin 45 Mark bereits gezahlt hätten und sich nun im Gedränge die kalte Nacht um die Ohren hauen müßten.

Und dann geriet ein Teil des Konzertes durch die weißen Zutänzer zu einer Art peinlicher Uni-Mensa-Fete, wie sie gerne von Frauen Ende 40 mit gefährlichen Doppelnamen, zwei Kindern und Abendstudium an der HWP besucht werden. Das ist leider keine Atmosphäre für den Jazz, und schon gar nicht im Jahre 1996. Das Westport-Festival, mit seinem Hang zum Kommerz, hat da die Zeichen der Zeit schon eher gehört. Die in der Fabrik zu Auge und Ohr gebotene Musik mag für den privaten Geschmack im eigenen Kämmerlein sehr gut sein – für ein Festival fehlte die Innovation.

Dabei gibt es doch junge, hoch talentierte Bands im Crossover von Hip Hop, Soul, Trance und Jazz zur Genüge, die zudem hervorragende Musiker in ihren Reihen haben. Da ist gar kein Kulturpessimismus angebracht: The Roots oder Blackbeat oder Vernon Reid & Masque, gar das Buckshot Le Fonque-Projekt von Branford Marsalis – es gibt eine neue, ekstatische Atmosphäre im zeitgenössischen Jazz. Und ist nicht Jazz selber einmal nahezu ein Synonym für ein geniales Gespür für den Zeitgeist gewesen?

Damit das Fabrik-Jazz-Festival nicht im eigenen Saft zerbraten wird, ist aus reiner „Trotzdem“-Sympathie nur zu raten: Da muß an Form, Organisation und neuer spiritueller Offenheit gearbeitet werden.

Gunnar F. Gerlach

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen