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„Fahnenflucht“ verjährt nicht

In Frankreich stoßen Deserteure und Pazifisten immer noch auf Unverständnis. Hilfsorganisationen arbeiten ohne öffentliche Resonanz  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Deserteure hat es in Frankreich schon unter den absolutistischen Königen gegeben. Aber niemand wollte mit ihnen zu tun haben. Die Männer, die sich nachträglich von der Truppe entfernten und oft ihre Waffen mitnahmen, galten als feige Kerle und potentielle Marodeure. Ganz anders die Totalverweigerer, die ein Ansehen als mutige Idealisten genossen und von der Bevölkerung geschützt und oft sogar versteckt wurden.

Unter Frankreichs Deserteuren gibt es tragische Schicksale – darunter jenes des Anarchisten und Pazifisten Louis Lecoin, der zwölf Jahre in französischen Gefängnissen verbrachte: Vor dem Ersten Weltkrieg kam er als Totalverweigerer hinter Gitter. Während des Ersten Weltkriegs wurde er wegen Desertion inhaftiert. Und 1939, als er sich erneut weigerte, in den Krieg zu ziehen, mußte er wieder in den Bau. Wie viele andere Deserteure auch brachten ihn die Franzosen beim deutschen Einmarsch nach Algerien, wo er fast bis Kriegsende einsaß.

Heute gilt Lecoin als einer der Väter des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das Negativimage des Deserteurs und das positive der französischen Armee hat sich gehalten. Die Deserteure aus dem letzten großen Kolonialkrieg, den Frankreich bis 1961 in Algerien führte, büßten bis in die späte Mitte ihres Lebens dafür. Denn im Gegensatz zu „normalen“ Straftaten gibt es bei Desertion bis heute keine Verjährung. Fahnenflüchtige werden erstens mit Gefängnis bestraft und können zweitens bis zu ihrem 53. Lebensjahr zum Nachleisten des fehlenden Dienstes gezwungen werden.

Ein Schicksal, das viele französische Soldaten erlitten, die „im Mutterland“ gern ihren patriotischen Dienst leisteten, sich aber der drohenden Entsendung in den Kolonialkrieg durch Flucht ins Ausland entzogen. Unter ihnen waren linke Christen, Kommunisten und Pazifisten. Manch einer kam erst 15 Jahre später aus dem Exil nach Frankreich zurück, bloß um an der Grenze abgefangen und direkt in irgendeine Kaserne befördert zu werden.

Die Amnestien für Deserteure, deren weitestgehende im Jahr 1968 sowohl pazifistische Deserteure als auch einstige Folterer begünstigte, die sich nach dem Putschversuch von 1958 von der französischen Armee entfernt hatten, rehabilitierten immer nur einen Teil der Fahnenflüchtigen. Im Prinzip gilt die Regel immer noch: Wer desertiert, kommt ins Gefängnis und muß zurück zur Armee. Der Widerstand von Gruppen wie der Marseiller RIRE, in der sich Totalverweigerer und Deserteure gegen die Doppelstrafe zusammengeschlossen haben, ist in Frankreich kaum bekannt. Selbst „normale“ Militärdienstverweigerer wissen oft nicht von ihrer Existenz.

Besonders viele Deserteure gibt es gegenwärtig ohnehin nicht unter den französischen Wehrpflichtigen. Besonders hoch ist die Zahl der Deserteure bei der „Fremdenlegion“, jener Truppe für besondere ausländische Einsätze, die sich aus Söldnern zusammensetzt. Männern also, die eigentlich freiwillig in diese Uniform geschlüpft waren. Der Historiker Michel Auvray, Autor eines in den 80er Jahren erschienenen Buches über das Thema (*), erklärt das Phänomen damit, daß die Fremdenlegionäre nicht unbedingt Militaristen sind, sondern sich ihr mehrjähriges Engagement in den Kopf gesetzt haben, ohne richtig zu überlegen. „Irgendwann“, sagt er, „merken sie, daß es doch nicht ihre Sache ist, und versuchen auszubrechen.“

Harte Gefängnisstrafen, unter anderem in dem Fremdenlegionärsgefängnis auf Korsika, waren die Folge. Bei manch einem endete der Ausbruchversuch aus der Truppe mit Selbstmord. Immerhin haben die Fremdenlegionäre heute sechs Monate Zeit, wieder auszusteigen. Danach aber gilt für sie kein Kündigungsrecht mehr: Sie müssen durchhalten. Die von Staatspräsident Jacques Chirac angekündigte Abschaffung des Militärdienstes in spätestens sechs Jahren und die Einführung einer Berufsarmee hat bislang nichts an der Situation von Deserteuren geändert. Nicht einmal eine Generalamnestie ist vorgesehen. In Frankreich, wo sich ein komplettes Staatssekretariat den Fragen der „ehemaligen Kämpfer“ widmet, wird man noch lange vergebens nach einem Denkmal für den „unbekannten Deserteur“ suchen.

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