: Der Schwarzmarkt läuft prächtig
Heute vor einem Jahr wurde das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Für Bosnien brachte es ein Ende des Krieges. Vor allem der Handel über die inneren Grenzen hinweg schafft wieder Vertrauen ■ Aus Tuzla Erich Rathfelder
Die 65jährige Maria Populić ist glücklich. Ihre Tochter ist mit den Enkelkindern aus der „Republika Srpska“ angereist. Sie hat während des Krieges in einem Dorf im Majevica-Gebirge gelebt, von wo aus die Region Tuzla von den bosnischen Serben mit Artillerie beschossen wurde. „Ich habe bei jedem Knall gebetet, daß meine Mutter nicht getroffen wird“, sagt die ehemalige Psychologin, die vor dem Krieg in Sarajevo gearbeitet hat. Dort hat sie auch ihren Mann kennengelernt, einen bosnisch-serbischen Geschäftsmann. „Mein Mann Serbe, meine Mutter Katholikin, mein verstorbener Vater Muslim, unsere Familie ist halt die typische bosnische Mischung“, sagt sie und lacht. Kontakt hielten sie und ihre Mutter über Verwandte in Australien.
Die Rückkehr nach Tuzla ist ihr nicht leichtgefallen. „Wer weiß, wie die Polizei reagiert, mein Mann war ja in der bosnisch-serbischen Armee und hat im Majevica- Gebirge gekämpft.“ Vor wenigen Tagen aber ist sie mit dem serbischen Bus bis an die Demarkationslinie gefahren; das von Ifor- Truppen kontrollierte Niemandsland hat sie zu Fuß überquert. Und auf der anderen Seite wartete schon ihre Mutter, um sie in Empfang zu nehmen.
In dem vier Kilometer breiten entmilitarisierten Streifen entlang der ehemaligen Frontlinie liegt „Arizona“, ein Umschlagplatz für Waren und Informationen. Schon im Februar, als die Armeen auseinandergerückt waren, trafen sich hier die ersten Händler. Zigaretten und Schnaps, Kleidung und Fleisch wurden am Rande der Straße getauscht.
Als der Markt sich ausbreitete und immer mehr Menschen anzog, griff die bosnische Regierung ein. Eine zollfreie Zone könne nicht geduldet werden. Auch die serbische Führung, damals noch unter Radovan Karadžić, wollte den Markt blockieren. Im März und April häuften sich Überfälle auf die Händler, die serbisch-bosnischen Polizisten blieben tatenlos. Erst als US-amerikanische Ifor- Truppen ihre Kontrollen verstärkten, hörten die Überfälle auf. Der Markt erblühte wieder. Die Ifor wollte den Umschlagplatz für Waren und Menschen erhalten, als Hoffnungszeichen für ganz Bosnien, wie ein Kommandeur sagte.
Jetzt sind feste Stände auf dem sumpfigen Gelände aufgebaut, Restaurants und Cafés sind entstanden. Hunderte von Autos parken hier, mit Nummernschildern aus Banja Luka, aus Tuzla, aus Brčko, aus Sarajevo und aus Mostar. Kroaten bringen elektronische Geräte und Kleidung, Händler aus Tuzla Salz, Medikamente und Teppiche, die Serben Zigaretten, Fleisch, Haushaltswaren und sogar lebendes Vieh. Bezahlt wird in deutscher Mark, manche nehmen jedoch auch bosnische Dinar, serbische Dinar oder die kroatische Kuna an.
Der 36jährige Zjelco, ein Elektroingenieur aus Grbavica, dem ehemals von Serben kontrollierten Stadtteil Sarajevos, hofft, hier Leute aus seiner Heimatstadt zu treffen. Er will wissen, was aus seiner Wohnung und seinem Viertel geworden ist. Seit er im April die Stadt verlassen hat, fühlt er sich von allen politischen Mächten verraten. Von der eigenen Führung in Pale, die ihn zur Flucht bewegte, der Internationalen Gemeinschaft, die nicht nachdrücklich genug für Sicherheit sorgte und der bosnischen Regierung, die nur wenig unternahm, die Serben aus Sarajevo zum Bleiben zu bewegen. Jetzt lebt er in einer Hausruine in Brčko. Die Zigaretten aus Serbien, die er für zehn Mark pro Stange verkauft, sind seine einzige Einnahmequelle. Er will wieder zurück, sagt er, aber niemand unterstütze ihn. In Pale wird abgewunken, bei den Internationalen treffe er auf keine Resonanz und vor der bosnischen Polizei habe er Angst.
Die Straße nach Brčko führt entlang der Frontlinie. Hier im serbischen Teil rührt sich an den Ruinen keine Hand. Ärmlich gekleidete Menschen wohnen hier, doch aufbauen wollen sie die Häuser nicht. „Warum sollen wir dies tun, wir Serben aus Sarajevo, wir wissen doch gar nicht, ob wir hier bleiben können.“ Die Frau, die dies sagt, lebt mit vier Kindern in zwei Kellerräumen. Sie lebt von humanitärer Hilfe. Arbeit suchte sie vergeblich. Selbst jene, die Arbeit hätten, verdienten nur 50 Mark im Monat.
Das Wohlstandsgefälle zwischen Tuzla und Brčko ist enorm. Die sichtbaren Zeichen für den Wiederaufbau fehlen: keine Autos, keine neuen Läden, keine hektische Betriebsamkeit.
Am Abend liegt der Arizona- Markt verlassen da. In einer der noch geöffneten Kneipen wird über die Schüsse bei Celić und die Zerstörung von zwölf muslimischen Häusern an der Demarkationslinie bei Brčko diskutiert. In Celić hatten muslimische Flüchtlinge versucht, in das Dorf Gajevi, das in der entmilitarisierten Zone liegt, zurückzukehren. Doch serbische Polizei vertrieb die bewaffneten Rückkehrer mit Schüssen und Granaten. Es gab einen Toten und fünf Verletzte.
„Wir hier“, sagen die Händler auf dem Markt von „Arizona“ dagegen, „haben nichts gegeneinander.“ Zjelco und ein Muslim aus Tuzla machen das letzte Tauschgeschäft des Tages. Sie verabschieden sich lachend und mit Handschlag. „Die Schüsse, die sind Politik.“ Und mit Politik wollen die beiden nichts mehr zu tun haben.
Über der ostbosnischen Großstadt Tuzla tragen die herbstlichen Nebelschwaden einen beißenden Geruch in die Hochhausschluchten der nördlichen Wohnviertel. Was Ökologen Stirnrunzeln bereiten mag, stimmt manchen der Passanten hoffnungsfroh: „Im Chemiewerk Sodaso wird wieder gearbeitet.“
Mit 30.000 Beschäftigten war „Sodaso“ der größte Chemiekonzern im ehemaligen Jugoslawien. Vor dem Krieg exportierte die Firma in über 90 Länder der Welt, vor allem Düngemittel und Medikamente. Der geschäftliche Erfolg des Konzerns entschied über Wohl und Wehe der Stadt. Mit dem Kombinat ist Tuzla in den 50er und 60er Jahren gewachsen, mit dem Kohlekraftwerk und dem alten Salzbergwerk verfügten die damals 110.000 Einwohner über eine solide wirtschaftliche Basis. Kein Wunder, daß sich die Stadt zum Magneten für Menschen aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien entwickelte und damit auch zu einem multikulturellen Zentrum Bosniens.
Tuzla profitierte von den Investitionen des Tito-Staates. Und deshalb haben die Kommunisten in der Arbeiter- und Ingenieurstadt lange Zeit über eine breite politische Anhängerschaft verfügt. Selbst 1990, als überall im ehemaligen Jugoslawien nationalistisch gewählt wurde, hielt in der Stadt eine Koalition aus Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberalen dem Druck der Nationalisten Stand.
Auch bei den Wahlen vom September diesen Jahres errang die gemeinsame Liste dieser politischen Kräfte die Mehrheit. Und so kommt es nicht von ungefähr, daß auch während der schlimmsten und bedrückendsten Zeiten des Krieges der bosnische Geist in dieser Stadt wachgehalten wurde. Zwar haben viele Serben und Kroaten die Stadt während der Belagerung und des Hungerwinters 1993/94 verlassen, vertrieben wurde von hier jedoch niemand. Und viele wollen zurückkommen, 8.000 Anträge aus Belgrad allein seien eingegangen, sagt Selim Beslagić, der Bürgermeister von Tuzla, stolz.
Daß jetzt wenigstens ein paar der Schornsteine wieder rauchen, daß drei der vier Blöcke des riesigen Kraftwerks wieder arbeiten und Elektrizität und Wärme produzieren, kommt vielen Bewohnern wie ein kleines Wunder vor. Die Straßen werden ausgebaut, an jeder Ecke eröffnen neue Läden und neue Restaurants. Schäden werden ausgebessert, Wasserleitungen und Telefonleitungen gelegt. In den Ruinen der vom Krieg zerstörten Dörfer des Umlandes geht es ähnlich zu. Vieles ist mit dem Kapital ausländischer Hilfsorganisationen in Eigenarbeit wieder aufgebaut worden. Einige tausend Flüchtlinge, die während des Krieges in die Städte der Region gekommmen waren, sind in ihre alten Dörfer zurückgekehrt – soweit sie sich in dem bosnisch-muslimischen kontrollierten Gebiet befinden.
In den neuen Läden, bei internationalen Hilfsorganisationen, in den Behörden, der neuen Berufsarmee und jetzt auch in der Industrie haben die Menschen in Tuzla Arbeit gefunden. Die Löhne liegen zwar bei bescheidenen 200 bis 300 Mark. Die Preise dagegen sind denen in Deutschland vergleichbar. Doch gemessen an den symbolischen Löhnen während des Krieges von vier bis acht Mark pro Monat ist ein Anfang gemacht. Nicht mehr vollständig abhängig zu sein von humanitärer Hilfe, kommt einer Befreiung gleich.
Gegenüber dem Bürgermeisteramt haben Flüchtlinge aus Srebrenica eine Werkstatt und einen Verkaufsraum für ihre Produkte – Teppiche – eröffnet. Von den 50.000 Vertriebenen aus Ostbosnien, die noch in Notunterkünften leben, haben erst wenige Arbeit gefunden. Sie sind weiter abhängig von der spärlicher fließenden humanitären Hilfe. Dies gilt auch für die Alten, die Kranken und die Verwundeten.
Die meisten hoffen zwar immer noch auf den Tag X, „auf den Tag, an dem ich nach Hause gehen kann“, nach Srebrenica, nach Soca, nach Brčko oder in die anderen Orte Ostbosniens. Und alle fühlen sich von „denen da oben“ betrogen. Als die zugesagten Renten für Kriegsversehrte in der Bürokratie der Kantonalregierung versickerten, kam es zu wütenden Protesten. War während des Krieges Nachbarschaftshilfe üblich, denke jetzt jeder nur noch an seinen eigenen Vorteil, sagen die Versehrten.
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