Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Szene organisiert sich selbst, und sie braucht nicht viel: nur Trommeln und Baß. Drum 'n' bass ist eine Mischung aus Techno, Ragga und HipHop, die es in sich hat. Ein Bericht zur Lage  ■ von Tobias Rapp

„This is the dawn of a new era!“ Montag nacht, 23 Uhr. Mit programmatischer Parole und wild rollenden Breakbeats beginnt Radio Massive, die Jungle-Radio- Show auf Kiss FM. Die Senderräume an der Voltastraße sind um diese Uhrzeit schon verwaist, im Studio herrscht dennoch reges Treiben. Moderator und DJ Bass- Dee springt von den Plattentellern an das Mikrophon und zurück, eine Gruppe von befreundeten DJs hängt rund um den Sendetisch ab. Es wird mit dem Kopf genickt, und Neuigkeiten über die letzten Promoplatten werden ausgetauscht. Seit knapp anderthalb Jahren on air, ist Radio Massive eine der wenigen Sendungen, wo das selbsternannte DJ-Radio seinem Anspruch gerecht wird. Und Macher Bass-Dee gilt in der Berliner Szene als der „Godfather of Drum 'n' bass“.

Für Bass-Dee begann die Breakbeat-Ära in Berlin, lange bevor die Musik ihren Weg in den „Sportschau“-Trailer und ins Zeit- Feuilleton gefunden hatte. Nämlich 1992 mit den Bass Terror Partys in der Kreuzberger Turbine. Zurückblickend hält er den Unterschied zwischen Techno und Breakbeats damals für nicht so groß, wie heute immer behauptet wird. „Ich war auch mal im „Rage“ in London, dem Club, in dem alles angefangen haben soll“, erzählt Bass-Dee, „was dort lief, war nicht so anders als der damalige E- Werk-Sound hier.“ Es war die Entwicklung der kommenden Jahre, die den Unterschied machte. Denn während in Berlin die Techno- Beats härter und schneller wurden, fusionierten in London Techno, Ragga und HipHop zu Jungle.

Die Bass Terror Crew löste sich relativ bald auf. Alec Empire und Gefolgschaft gründeten Digital Hardcore Recordings und begannen, Punkgitarren in ihre Musik zu integrieren, oder widmeten sich dem elektronischen Klangexperiment ohne Beat. Bass-Dee und sein kleiner Bruder Feed machten weiter. Sie legten Techno auf und fahndeten weiter nach neuen Breakbeat-Platten.

Doch nicht nur in der Techno-, auch in der Reggae-Szene wurde wahrgenommen, daß sich in England etwas entwickelte. Nobert, Geschäftsführer des einschlägigen Plattenladens Downbeat, bekam 1994 zum ersten Mal Jungle- Tracks in die Hände. Über Reggae-Verbindungen hatte sie ihren Weg nach Berlin gefunden. Als klar war, daß sich für solche Musik auch in Deutschland ein Markt öffnen würde, bot das Majorlabel WEA Downbeat einen Lizenzdeal an. Die Subkultur-Kompetenz des Plattenladens gegen die Major- Infrastruktur. Nobert stellte eine Platte zusammen, und der Erfolg war überwältigend. Die Downbeat-Compilation – im bunten Jim- Avignon-Cover – verkaufte sich über 20.000mal. Die Jungle-Welle in Deutschland rollte.

Wenige Monate vorher hatte der HipHop-DJ Sebel in England zum ersten Mal Jungleplatten unter der Nadel. Er kaufte von jeder Platte gleich mehrere und begann den neuen Stoff zusammen mit DJ Apollo aufzulegen. Zwar dauerte dieser erste Hype-Versuch nur einige Monate, doch wer die entsprechenden Platten hatte, konnte sich vor Bookings für Clubs in ganz Deutschland kaum retten. „Du kamst in einen Club, wo noch niemand diesen Sound kannte, eine Weile hörten alle zu, doch irgendwann kochte es“, erinnert sich Apollo. Danach wurde es wieder ruhiger. Und so blieb es in der Folge auch.

Während die Drum-'n'-bass- Szene in England explodierte, wuchs die Musik in Berlin eher langsam, aber stetig. Drum 'n' bass erwies sich als Hype-resistent. Auch als die Musik vor einem halben Jahr im Stadtmagazin Zitty eine Titelstory bekam, füllten sich die Parties nur für einige Wochenenden. Nach einem Monat war wieder alles wie gehabt. Hier ein konvertierter House-DJ, dort ein Raver, dem die geraden four-to- the-floor-Beats mit der Zeit langweilig geworden sind, und dazwischen eine ehemalige HipHopperin, die sich heute kaum mehr vorstellen kann „wie ich auf so langsame Musik tanzen konnte“. Und die Szene organisierte sich selbst. Um die Plattenläden wie Downbeat und New Noise, die den begehrten britischen Vinyl-Ausstoß im Sortiment führen, oder um Fanzines wie das unregelmäßig erscheinende Easy. Jenseits der großen Clubs feilten die Junglists in ihren kleinen Kellern und Bars weiter an ihrem Sound. Die Junglemania am Donnerstag im Acud und der Freitag im Toaster sind die festen Termine im Jungle-Wochenendkalender.

Seit einigen Wochen ist Junglemania im Exil. Nach einem Gastspiel im WMF findet die Party nun im Sexiland statt, einem Kellerclub am Rosenthaler Platz mit Eingang auf der Straßenbahnhaltestelle. Ungefähr fünfzig Nachtschwärmer lassen ein Trommel-und-Baß-Gewitter über sich ergehen. Ein paar Leute tanzen, der Rest hört zu. Sehr zum Leidwesen der DJs. „Für viele Leute ist Drum 'n' bass vor allem Kopfmusik, mit interessanten musikalischen Strukturen“, glaubt Bass-Dee, dazu zu tanzen sei für viele zu schwierig. Trotzdem stehe Drum 'n' bass im Moment vor einem Quantensprung. „In letzter Zeit habe ich ein paarmal den Eindruck gehabt, so soll es sein.“ Immer öfter springe der Funken auch auf die Tanzfläche über und bringe die Party zum Kochen. Plötzlich seien die Körper soweit.

Die Überschaubarkeit der hiesigen Szene ist aber nur zum Teil selbstgewählt. Für Apollo liegt dies auch an der Politik der großen Clubs. „Wenn die vor zwei Jahren angefangen hätten unsere Musik zu spielen, wären wir jetzt ganz woanders.“ Doch Experimentierfreude ist deren Sache auch heute nicht. Wenn das E-Werk oder der Tresor Drum-'n'-bass-Nächte ankündigt, sind es fast immer Londoner Namen, die auf den Flyern stehen. Von den Junglists der ersten Stunde wird das mit Unbehagen beobachtet. Daß die Großclubs jetzt die Szene aus England einfliegen, empfinden die Jungle-Aktivisten als Rip-off. „Wir haben die Szene jahrelang aufgebaut, und jetzt kommen die Clubs mit dem nötigen Kleingeld und buchen die Stars aus England“, ärgert sich Apollo. „Alle Club-Veranstalter und Techno-DJs sagen, daß sie Drum 'n' bass mögen, aber keiner legt es auf“, faßt Bass-Dee die Situation in Berlin zusammen.

Trotz aller Widrigkeiten ist die Berliner Szene vor allem eine Party-Szene. Die hier produzierten Platten kann man an einer Hand abzählen. Und der kleinen Zahl hiesiger Produzenten entsprechend gering ist die Zahl der Dubplates, die auf den Turntables der DJs landen. Dubplates sind mit Plastik überzogene Metallscheiben, in die Produzenten ihre Tracks schneiden lassen. Verhältnisse wie in England, wo seit Jahren zwischen DJs und Produzenten der sprichwörtliche Dubplate-War um die begehrten Unikate tobt, sind nicht einmal entfernt in Sicht.

Sebel ist einer der wenigen lokalen Produzenten. Für ihn ist eine Entwicklung wie in England auch nicht zu erwarten. „Diese Musik ist dort als Mischung verschiedener Kulturen entstanden, und die Szene hier ist doch vor allem weiß.“ Diese Vermischung habe es auch vorher schon gegeben. Daß ein Ragga-MC auf einem Acidrave chatted, sei hier auch zu Hoch-Zeiten von Techno nicht denkbar gewesen. Trotzdem ist Sebel überzeugt, etwas sei im Gange. Als er neulich nach Jungle-Sampling- CDs geschaut habe, seien sie ausverkauft gewesen. „Wahrscheinlich sind das die Techno-Leute, die versuchen den Hals zu wenden.“

Seine eigenen Produktionen läßt Sebel sich auf Dubplate schneiden, um sie dann im Club aufzulegen. Nur so könne er einen Track optimieren. „Beim Auflegen merke ich, wie die crowd reagiert, ob noch irgendwas fehlt oder ob es so funktioniert.“ Bis ein Track in Vinyl gepreßt wird, durchläuft er so mehrere Dubplate-Mixe. Doch auch Londoner Produzenten schicken ihm mittlerweile DATs, damit er sich Plates schneiden lassen kann.

Noch ist Downbeat das einzige Berliner Plattenlabel, und dort kommen auch nur Compilations mit meist britischen Produktionen heraus, doch auch hier gibt es Bewegung. Come Correct, das erste Berliner Junglelabel, scheint nach zwei Veröffentlichungen zwar eingeschlafen, doch mit dem Downbeat-Ableger Chamäläon, Polaroid Records und Case Invadors kauern drei neue Jungle-Labels in den Startlöchern. Die ersten Platten sollen in den nächsten Wochen in den Läden stehen.

Drum 'n' bass – die Morgenröte einer neuen Ära? „Von der Produktionsseite auf jeden Fall“, glaubt Bass-Dee, relativiert die Euphorie jedoch etwas. „Musik ausschließlich mit dem Sampler zu produzieren ist für mich die Zukunft.“ Und DJ Feed schlägt auf die gleiche Trommel: „Drum 'n' bass weist den Weg in die musikalische Zukunft.“ Für Apollo ist eine Sache klar: „Techno wird begraben, das weiß ich, spätestens seit ich bei meinem Friseur mit Mixtapes bezahlen kann. Die können ihre ewige Techno-Musik nicht mehr hören.“

Donnerstag: Junglemania im Sexiland am Rosenthaler Platz, Freitag: Toaster an der Neuen Schönhauser Allee, Samstag: Boogaloo an der Heinrich-Heine-Straße und Sonntag: Sexiland. Außerdem am 30.11. die Berliner Jungle-All-Stars im Boogaloo.