: Justitia als Workaholic
■ Wirtschaftliche und soziale Probleme führen zu vielen Klagen und immer größerer Belastung der Gerichte. Situation beim Arbeitsgericht "nahe an der Rechtsverweigerung"
Neulich vor Gericht: Der Kläger, ein Beamter, und die Beklagte, das Land Berlin, streiten sich seit Stunden um die Kostenübernahme von 500 Mark für einen Zahnersatz. Der Vorsitzende Richter bemüht sich mit Engelszungen, die Kampfhähne zum Einlenken zu bewegen. Sein rechter Beisitzer assistiert ihm hilfreich. Ganz anders der linke Beisitzer. Der Mann sitzt gelangweilt vor einem weißen Blatt und wird ab und an vom Schlummer übermannt.
Ständig heißt es, die Gerichte seien überlastet. Tatsächlich haben sich seit der Wende die Verfahren in manchen Bereichen fast verdoppelt. Gleichzeitig wurde zwar auch das Personal erhöht, aber nicht ausreichend, meint der Vorsitzende des Hauptrichterrats, Hans- Peter Rueß. Gemessen an der von der Bundespensenkommission festgelegten Zahl der Fälle, die ein Richter bearbeiten muß, gebe es in Berlin 25 Prozent zuwenig Richter. Dazu kämen die Löcher, die der seit einem Jahr bestehende Einstellungsstopp für freiwerdende Stellen gerissen hat. Außerdem müssen laut Senatsbeschluß 1997 weitere 33 Richterstellen eingespart werden. Gemessen an der Gesamtzahl von 1.384,5 Richterstellen seien 33 Stellen nicht viel, gibt Rueß zu. „Aber in Folge der strukturellen Minderausstattung könnte das Faß in manchen Bereichen überlaufen“, fürchtet er.
Am schlimmsten ist die Situation am Verwaltungsgericht und am Arbeitsgericht. Das Verwaltungsgericht verzeichnete in diesem Jahr 30.000 Eingänge, 1991 waren es noch 16.678. Über 40 Prozent betreffen das Ausländer- und Asylrecht. Noch dauert ein Klageverfahren rund 13 Monate, aber bei gleichbleibender Lage befürchtet der Präsident des Verwaltungsgerichts, Alexander Wichmann, daß bis zu einer Entscheidung künftig bis zu vier Jahren vergehen könnten. Vorläufige Rechtsschutzsachen, zum Beispiel von Klägern, denen die Abschiebung droht, seien dann kaum noch in „verantwortbarer Weise zu bewältigen“.
Der Präsident des Arbeitsgerichts, Achim Riedel, berichtet für 1996 von 65.000 eingegangenen Klagen, ein Spiegel der schlechten Konjunkturlage: „Es brennt.“ Selbst 1991, nach der Abwicklung der DDR-Kombinate, waren es „nur“ 50.000. Mit künftigen Terminständen von einem dreiviertel Jahr und länger „kommen wir an den Rand der Rechtsverweigerung“, stellt Riedel fest. Für kleine Firmen könne dies ohne weiteres den Konkurs bedeuten.
Der Staat spart, was das Zeug hält, die Menschen klagen dagegen, und die Justiz wird dadurch massiv belastet. Nicht nur beim Verwaltungsgericht, sondern auch beim Sozialgericht sind die Auswirkungen schon deutlich spürbar, bestätigt Richter Hans-Jürgen Kretscher. „Die Terminstände betragen bisweilen schon über ein Jahr.“
Im Vergleich dazu stehen die für Strafverfahren zuständigen Amts- und Landgerichte ganz gut da. „Trotz anhaltend hoher Arbeitsbelastung“ betrage die Zeitspanne zwischen Anklageerhebung und Prozeß im Durchschnitt drei Monate, erklärte Justizsprecherin Corinna Bischoff. Natürlich gebe es auch immer wieder „Ausreißer“, also Termine bis zu einem Jahr und länger. Beim Landgericht dauerte es unlängst sogar zwei Jahre, bis acht Polizisten wegen der Körperverletzung im Amt vor dem Kadi standen. In solchen Fällen heißt es dann meist, die Kammer habe noch Haftsachen erledigen müssen, die Vorrang haben.
Im Gegensatz zur Strafgerichtsbarkeit, die wegen des Sicherheitsempfindens der Bürger bei Stellenbesetzungen meist Vorrang hat, sind die Zivilgerichte das Stiefkind der Justiz. Es werde immer verkannt, daß „eine funktionierende Ziviljustiz ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, an dem viele Arbeitsplätze hängen“, bedauert der Vorsitzende Richter des Berliner Richterbundes, Lothar Jünemann. Er berichtet, daß die Richterstellen in der Ziviljustiz um 20 Prozent unterbesetzt sind.
Auch beim Finanzgericht steigen die Eingänge stetig, aber trotz chronischer Unterbesetzung gibt es dort nicht so lange Terminstände wie anderswo. „Ich habe ganz hervorragende, tatkräftige Kollegen“, ist Präsident Herbert Bültmann voll des Lobes. Keine Klagen sind auch vom Verfassungsgerichtshof zu hören, dessen neun ehrenamtliche Richter rund 100 Fälle im Jahr bearbeiten. Die Terminspanne beträgt drei Monate bis zu einem Jahr. „Wir sind belastet, aber wir schaffen es schon“, so Richter Klaus Eschen.
Belastung ist eben nicht immer gleich Belastung. Der eine ist faul, aber schnell, der andere fleißig, aber langsam. Im großen Unterschied zu anderen Leuten haben Richter aber keine Anwesenheitspflicht und sind niemandem Rechenschaft schuldig. Der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Horst Sendler, hat einmal in einem Aufsatz über die Arbeitsmoral von Richtern geschrieben: „Der eine Kollege arbeitete nur, wenn der Geist über ihn kam, und das war selten.“ Plutonia Plarre
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen