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„Erinnere dich des Monats November“

■ Zur Vortragsreise des lettischen Historikers Margers Vestermanis

Am 27. November 1941 verließ ein Zug mit 904 Juden aus Berlin den Güterbahnhof Grunewald. Es war der erste „Osttransport“ nach Lettland, dem bis Februar 1942 noch 22 weitere aus ganz Deutschland folgten. Drei Tage später erreichte dieser erste Transport die Hauptstadt Riga. „Keine Liquidierung“, hatte Reichsführer SS Heinrich Himmler ein paar Tage zuvor bestimmt, denn die Deportierten – darunter viele Teilnehmer des Ersten Weltkriegs – sollten als „Arbeitsjuden“ in das Ghetto von Riga. Aber das Ghetto in der „Moskauer Vorstadt“ war an diesem 30. November für die Ankommenden noch nicht „geräumt“. Die Hälfte der Insassen, etwa 14.000 Menschen – vor allem Frauen und Kinder –, standen im Ghetto schon aufgestellt zum Abmarsch in den zehn Kilometer entfernten Wald von Rumbula, aber die „Erschießungsaktion“ unter der Leitung von SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln verzögerte sich.

Der Tod der lettischen Juden wurde um Stunden aufgeschoben, weil der Zug aus Berlin zu früh angekommen war. Denn statt, wie geplant, ins Ghetto wurden die deutschen Juden – eben weil es noch nicht „geräumt“ war – als erste Gruppe zu den bereits ausgehobenen Massengräbern im Wald von Rumbula gebracht. An diesem Massaker – ein zweites folgte acht Tage später – waren der SD, die ganze deutsche Ordnungspolizei in Riga und das lettische 20. Schutzmann-Bataillon beteiligt. An diesen zwei „Blutsonntagen“ wurden etwa 25.000 Menschen ermordet. Es war faktisch das Ende des lettischen Judentums und – weil jetzt Platz im Ghetto war – der Beginn des Leidenswegs der deutschen Juden im Baltikum. Unter den Toten befand sich auch die ganze Familie von Margers Vestermanis. Über das auf so bittere Weise verknüpfte Schicksal der lettischen und nach Lettland deportierten deutschen Juden berichtet der 72jährige jetzt auf einer Vortragsreise, die ihn bis zum 5. Dezember durch elf Städte führen wird. Organisiert hat sie, zum 55. Jahrestag an diese Rigaer Tragödie, das Frankfurter Fritz- Bauer-Institut, Studienzentrum zur Geschichte des Holocaust.

Vestermanis Berichte sind aus zwei Gründen überaus bemerkenswert. Zum einen ist er als ehemaliger Ghettoinsasse und KZ- Häftling Zeitzeuge. Zum anderen ist er Historiker, dessen ganzes Engagement dem Bemühen gilt, hinter den Todesstatistiken die einzelnen Menschen wieder sichtbar zu machen. „Eine Forschung ist auch ein Kaddisch-Gebet“, sagt er. „Mir geht es nicht nur um Zahlen, sondern um das Andenken an lebendige Menschen.“ Heute ist er Leiter des Jüdischen Museums- und Dokumentationszentrums in Riga. Diese Einrichtung, das einzige seiner Art im ganzen Baltikum, hat er ab 1990 unter schwierigsten finanziellen und politischen Bedingungen aufgebaut. Denn in Lettland über den Holocaust zu reden ist immer noch eine sehr schwierige Geschichte.

Heute ist das Zentrum immer noch nicht finanziell abgesichert, aber Vestermanis akribische Forschungen über das lettische Judentum haben inzwischen internationale Bedeutung. Seine Arbeiten, unter anderem über die Beteiligung der Ordnungspolizei und der lettischen Kollaboration, haben angesichts der Aufregung über Goldhagens „willige Vollstrecker“ allergrößte Aktualität. So konnte er nachweisen, daß sich auch die Marine am Völkermord in Lettland beteiligte, ein bis dahin völlig unbekanntes Kapitel. Die Reise des Zeitzeugen und Geschichtsforschers Margers Vestermanis durch Deutschland trägt das Motto „dermonsech dem Monat November, dem Johrzeit von deim Weib un Kind“. Es ist das Lied aus dem Rigaer Ghetto: Erinnere dich des Monats November, dem Todestag von Frau und Kind. Anita Kugler

Weitere Termine der Vortragsreihe: Berlin (23.11.), Rostock (24.11.), Hamburg (25.11.), Hannover (26.11.), Bochum (27.11.), Göttingen (28.11.), Frankfurt (30.11.), Fulda (2.12.), Köln (3.12.), Freiburg (5.12.)

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