: „Die Politik Helmut Kohls ist die subversivste“
■ Ein Gespräch mit dem Jurymitglied Wolf Bunge über freies Theater in Ost und West, über Provokation und Wirklichkeit, Kunst, Gewerbe und Frösche im Wasser
Wolf Bunge (46) leitet seit 1990 die Freien Kammerspiele Magdeburg. Er studierte Theaterwissenschaft und Schaupielregie in Berlin und war 1979–1984 Regisseur am Berliner Ensemble.
taz: Mit welcher Vorstellung von Politik beurteilen Sie die Auswahl, die aus immerhin rund 220 Produktionen getroffen wurde?
Wolf Bunge: Für mich ist nicht das Wichtigste, ob das Theater mit politischem Anspruch daherkommt, sondern der Realismus: wenn ich mich mit der Wirklichkeit der Welt befasse, werde ich mich auch politisch verhalten, so ist mein Selbstverständnis. Wenn ich diese Wirklichkeit so auf die Bühne bringe, daß sich das Publikum dafür interessiert, kann man über politische Themen verhandeln. Sterbenslangweilig wird's mir, wenn Politik darin besteht, Botschaften zu verkünden.
Zu beobachten ist die Tendenz einer starken Kunstgewerblichkeit: Statt mit der Realität zu spielen, macht man Formspielereien. Ich vermute, daß Schauspieler oder Teams auf dem freien Markt eine Lücke suchen und davon leben wollen – das kann ich gut verstehen, aber warum sie zum Festival „Politik im Freien Theater“ eingeladen werden, ist nicht klar. Bei einigen Produktionen ist allerdings erfreulich, daß die Hinwendung zur Wirklichkeit in der formalen Verarbeitung Schärfe und Stärke bekommt und nicht im eigenen Sumpf steckenbleibt.
Wie kommt es zu diesem Übergewicht unproduktiver Mätzchen?
Von einer Verteufelung der Medien, die angeblich dem Theater das Wasser abgraben, halte ich nichts. Wenn sich Theater auf seine eigenen Mittel besinnt, ist es stark. Kein anderes Medium kann diesen direkten Kontakt, dieses allabendliche Ritual, wenn sich Menschen auf der Bühne und im Zuschauerraum zusammenfinden, ersetzen. Da findet Kollektivität statt, während alle anderen Medien individualisieren.
Auf der einen Seite glaube ich, daß viele Gruppen in gesellschaftlicher Hinsicht einfach aufgegeben haben, nach dem Motto: Es ändert sich nichts, es lohnt sich nicht mehr, sich einzumischen. Die Aufführungen, die das Publikum verunsichern oder provozieren, fehlen, und das wirft die Frage auf, warum man eigentlich nicht im institutionalisierten Theater geblieben ist. Auf der anderen Seite besteht natürlich das Problem der Vermarktung, aber wenn die Voraussetzung dafür inhaltliche Harmlosigkeit ist, hat freies Theater seine Legitimation verloren.
Sind Ihnen Unterschiede zwischen der freien Szene in Ost- und Westdeutschland aufgefallen?
Letztendlich produzieren beide auf dem gleichen Boden und unterliegen den gleichen Abhängigkeiten. Man merkt zwar die Unterschiede in Ausbildung und Tradition, aber es kommt zunehmend darauf an, was nach der Ausbildung passiert ist. Im Westen und im Osten gab es Gruppen, die etwas Gemeinsames wollten, und die haben auch überlebt oder sind in neuen Gruppierungen aufgegangen. Im Westen war sicher dieses Gruppeninteresse stärker, während im Osten die handwerkliche Basis breiter war, im Sinne einer Grundqualität.
Wie könnte sich das freie Theater schärfer profilieren?
Von der Position eines subventionierten Stadttheaterintendanten aus den freien Gruppen von oben herab einen Rat zu geben, wäre natürlich anmaßend, weil sie meist um ihr Überleben kämpfen. In erster Linie sind sie für mich Kollegen, aber die Frage ist schon, wie sie ihr Überleben sichern: ob sie sich gängigen Marktmechanismen anpassen oder ob sie versuchen, so provokant auf sich aufmerksam zu machen, daß man davon spricht und sicher ist, das könnte ein Stadttheater nicht. Das ist notwendig, sonst bleibt einem nur die gängige Masche, in Schulen zu spielen und bestimmte Lehrplanthemen aufzunehmen wie Drogen, Aids oder Sekten. Ein Bildungsersatz wäre für mich aber nicht der richtige Weg, sondern schließt allenfalls Lücken, ohne eigenständige Theaterästhetik.
Der Begriff der Subversivität ist immer schwerer zu definieren. Ich habe bei der Eröffnung des Festivals gesagt, die Politik Helmut Kohls ist für mich die subversivste, weil, wenn ich darunter die Unterwanderung des Gemeinwesens verstehe, das bemerkenswert gelingt. Politik findet doch überhaupt nicht mehr statt, sondern nur noch Ökonomie, und das Gemeinwesen löst sich allmählich auf.
Heiner Müllers Geschichte vom Frosch wurde in letzter Zeit viel zitiert: Wenn man ihn in heißes Wasser wirft, wird er strampeln und versuchen, herauszukommen, wenn man ihn aber in kaltem Wasser langsam erhitzt, wird er sich wohlfühlen bis zum Tod. In dieser Situation sind wir, und das betrifft die freie Szene ebenso wie das subventionierte Theater generell. Wir müssen die andere Methode wählen: rein ins heiße Wasser, rein ins kalte Wasser. Interview: Lore Kleinert
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