piwik no script img

Künstler der Lakonie und Wahrnehmung

■ Kampnagel: Lesung mit John Berger aus seinem Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit“

Merkwürdig, warum unsereinem ausgerechnet immer Wim Wenders einfällt beim John-Berger-Lesen. Und zwar jene Szene aus dem Himmel über Berlin, in der Bruno Ganz in kalter Nacht an einem Imbiß steht und einen heißen Kaffee trinkt. Aber so merkwürdig ist das vielleicht doch gar nicht. Was immer man über Wenders sagen mag und muß: Wie gut ein heißer Kaffee in der Kälte tut, das immerhin kann man hier sehen. Und eben solche alltäglichen wie alltagspoetisch überhöhten Szenen finden sich in den Büchern des Romanciers, Essayisten und Kunstkritikers John Berger zuhauf.

John Berger (G, Flieder und Flagge, Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend) ist ein Wahrnehmungskünstler. Auch sein neuer Roman Auf dem Weg zur Hochzeit ist angefüllt mit durch genaues Beobachten beglaubigten Einzelheiten, die wie von selbst einen Zug ins Poetische haben. Wenn der blinde Erzähler etwa nach zwei Glas Raki vor einer griechischen Bar steht und der Musik zuhört, die von ihr aus in der Nacht verhallt; wenn Berger die Fahrt des Vaters der Braut, die hier trotz HIV-Infektion heiraten wird, auf dem Motorrad von Frankreich nach Italien in allen Einzelheiten schildert, dann hat das etwas von Wärme, von Mittelmeer, von Süden.

„Der leere Raum, die Lücke zwischen der Erfahrung, in diesem Moment auf unserem Planeten ein normales Leben zu führen, und den öffentlichen Erzählungen, die zur Sinngebung für dieses Leben angeboten werden, ist ungeheuer groß. Ä...Ü In solchen Lücken verlieren sich Menschen, und in solchen Lücken werden Menschen verrückt.“ Diese Sätze Bergers enthalten implizit sein Programm. Die Lücke schließen! Die normalen Erfahrungen schildern! Ein Programm, das er in seiner Lesart zu Distanz zu den Sekundärerfahrungen der Medien und zu Authentizität verpflichtet.

Wieviel sich Berger da vorgenommen hat, läßt sich in Auf dem Weg zur Hochzeit sehen. Denn so ganz ohne ist es ja nicht, die Erfahrungen einer HIV-infizierten jungen Frau authentisch schildern zu wollen. In den Passagen, in denen Berger der Krankheit ein Fest des Lebens entgegenhält, klingt das auch manchmal zu sehr nach Toskanafraktion. Aber Berger prunkt nicht mit seinen Beobachtungen, er schreibt sie auf. Und gerade in dieser Lakonie liegt dann oft etwas, was einen berührt.

Im Vorfeld des Welt-Aids-Tages am 1. Dezember werden morgen Gilla Kremer und Ulrich Cyran in Anwesenheit Bergers aus dem Roman lesen. Der Erlös geht an die Aids-Hilfe. Dirk Knipphals Auf dem Weg zur Hochzeit, Hanser, 216 Seiten, 36 Mark Lesung: morgen, 20 Uhr, foyer 2

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen